UKRAINE/SCHWEIZ: Auf der Suche nach einem Dialog

von Michael Rössler, EBF, 16.09.2014, Veröffentlicht in Archipel 229

Am 29. Juni 2014 fand im Kornhausforum in Bern die vom EBF mitorganisierte Tagung «Die Ukraine im Umbruch»1 mit der Frage statt: «Was können wir zur Stärkung der Zivilgesellschaft beitragen?» Das Treffen wurde von den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine überschattet.

Die ukrainischen Gäste kamen aus Transkarpatien (Westukraine), aus der Hauptstadt Kiew und aus der ostukrainischen Stadt Lu-gansk, die in der Region liegt, in der der bewaffnete Konflikt zwischen Armee und Separatisten stattfindet. Alle in Bern anwesenden Ukrainer_innen waren in der Maidan-Bewegung2 engagiert und sind seit vielen Jahren in zivilgesellschaftlichen Initiativen tätig: Das Spektrum ihrer Aktivitäten reicht von medizinischer Hilfe, der Betreuung von abgeschobenen Flüchtlingen aus der EU, Behindertenarbeit, dem Aufbau unabhängiger Medien über Dorfentwicklung bis zum Kampf gegen Rechtsextremismus und Korruption.
Befreiung aus der Resignation «Alles kann passieren, nur kein Krieg!» Noch vor einem Jahr hätte niemand in der ukrainischen Bevölkerung gedacht, dass es Krieg geben könnte. So schilderten uns die Eingeladenen die Stimmung in ihrem Land vor nicht allzu langer Zeit. Seit Ende Januar diesen Jahres, als die ersten drei Demonstranten auf dem Maidan-Platz in Kiew erschossen wurden, rasten dann die Ereignisse wie in einem Zeitraffer in eine unbekannte Richtung.
Unsere Gäste berichteten über die grosse Aufbruchstimmung der Maidan-Bewegung, über den breiten Aufstand gegen Willkür, Unterdrückung und Korruption und über erste Fortschritte nach der Flucht des Präsidenten. «Der Maidan hat unser Leben verändert, nichts ist mehr so wie vorher», so drücken sie ihr positives Gefühl aus, das so schwierig nachzuvollziehen ist, wenn man die Ereignisse hier im Westen nur von Ferne aus betrachtet hat und nachdem über 100 Demonstrant_innen auf dem Maidan erschossen wurden. Es muss ein unglaubliches Gefühl sein, sich von Resignation und Unterwürfigkeit befreit zu haben, zu erfahren, dass es möglich ist, selber und mit vielen anderen zusammen zu handeln und dabei die grössten Widerstände zu überwinden. In erster Linie ging es den Menschen darum, ihre Würde wiederherzustellen. Unsere Gäste verwahren sich dagegen, die Bewegung als das Produkt faschistischer Kreise darzustellen, wie es einige Medien, vor allem in Russland, tun. Es sei problematisch, dass rechtsextreme Nationalisten als eine militante Minderheit präsent gewesen seien; ihre Anwesenheit rechtfertige jedoch nicht die Kriminalisierung des Maidan: Die Bewegung war sehr heterogen, multiethnisch, vielsprachig und multireligiös.
Kriegslogik contra Reformen Nach der Flucht von Präsident Janukowitsch gab es die Hoffnung, dass wichtige Reformen für mehr Transparenz und Demokratie in Angriff genommen werden. Unsere Gäste berichteten über eine Öffnung bei Vertreter_innen der neuen provisorischen Regierung gegenüber ihren Anliegen. Doch nach der Annektierung der Krim durch Russland und mit dem bewaffneten Konflikt in der Ostukraine ist dieser Prozess in Gefahr und wurde durch eine Kriegslogik ersetzt. Die ersten Binnenflüchtlinge kamen von der Krim. Der bewaffnete Konflikt zwischen Armee und Separatisten in der Ostukraine hat inzwischen Hunderttausende von Menschen in die Flucht getrieben. Der eine Teil sucht Schutz in Russland, der andere Teil in verschiedenen Regionen der Ukraine. Wer «Glück» hat, kann bei Verwandten unterkommen; wer niemanden hat, steht vor dem Nichts. Der ukrainische Staat ist wirtschaftlich am Boden und tut wenig; die zivilgesellschaftlichen Initiativen helfen, wo sie können: bei der Suche nach Unterkunft und Lebensmitteln, bei der medizinischen und psychologischen Betreuung. Unsere Freund_innen haben alle Hände voll zu tun.
Dass geopolitische und wirtschaftliche Interessen, diejenigen der EU und der USA (nicht unbedingt immer die gleichen) auf der einen Seite und diejenigen Russlands auf der anderen Seite, den ukrainischen Staat in eine Zwickmühle getrieben haben, ist unseren Gästen klar. Dazu kommt die Propaganda auf allen Seiten, die einen neuen Kalten Krieg heraufbeschworen hat. Die Theorie von Russland und auch von verschiedenen Kreisen im Westen, dass die Maidan-Bewegung von der EU und den USA erfunden bzw. von Anfang an manipuliert worden sei, weisen die Ukrainer_innen zurück. Einer unserer Gäste aus Kiew beschreibt leicht ironisch eine der Auswirkungen der Propaganda für die zwischenmenschlichen Beziehungen: «Meine Verwandten in Russland halten mich schon für einen Agenten des US-Statedepartments. Wenn wir mitein-ander telefonieren, vermeiden wir es, über Politik zu reden.» Die Gräben gehen inzwischen durch viele Familien. Verwandtschaftliche Bindungen und Freundschaften zwischen Menschen in der Ukraine und Russland sind dabei zu zerbrechen. Der Krieg im Osten hat diese Situation extrem zugespitzt. Auf die Frage, ob es zu einer ähnlichen Situation wie im ehemaligen Jugoslawien kommen könnte, antworteten sie jedoch, dass sie sich dies nicht vorstellen könnten, da es sich um keinen ethnischen Konflikt handele, sondern um eine künstliche Konfrontation, die von gewissen Oligarchen und von Russland aus geschürt wird.
Auswege in eine andere Richtung? Bei der Tagung in Bern diskutierten wir in verschiedenen Arbeitsgruppen, an denen rund 80 Schweizer_innen, Ukrainer_in-nen und Russ_innen aus der Diaspora teilnahmen. Alle waren sich einig darüber, dass der Dialog gesucht werden muss, auch mit den Menschen in Russland, obwohl dies durch die Spannungen immer schwieriger wird. Am nächsten Tag trafen wir Parlamentarier_in-nen der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates, dazu einen Vertreter der «Erklärung von Bern», der sich mit der Frage der Fluchtgelder aus der Ukraine befasst. Unsere Gäste waren auch an einen Runden Tisch der Organisation «swisspeace» und des Kompetenzzentrums Friedensförderung (KOFF) in Bern eingeladen. Unsere Gäste äusserten bei den verschiedenen Anlässen ihre Anliegen und einige Ideen wurden besprochen: ein Aufruf an die Schweizer Regierung und die OSZE für eine grosszügige humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge aus der Ostukraine in den verschiedenen Regionen der Ukraine und auch in Russland, Unterstützung von unabhängigen Medien, welche der Kriegspropaganda auf allen Seiten etwas entgegensetzt, Zusammenarbeit bei der journalistischen Ausbildung, Beratung beim Aufbau föderalistischer staatlicher Strukturen, die Rückführung der eingefrorenen Fluchtgelder auf Schweizer Bankkonten des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Janukowytsch und seiner Entourage, mit der Auflage, dass die Mittel für humanitäre und soziale Aufgaben verwendet werden. Wir beabsichtigen, dass mit allen, die an den verschiedenen Treffen beteiligt waren, ein längerfristiger Austausch entwickelt.
Was nun? Dass das vorläufige Resultat einer Revolution nicht mit den ursprünglichen Hoffnungen der Revolutionär_innen deckungsgleich ausfällt, kennt man von den meisten, wenn nicht von allen Revolutionen in der Geschichte. Ebenso weiss man, dass es immer Versuche gegeben hat, die Massen zu manipulieren und für eigene Interessen einzuspannen. Dass die Ämter zum Teil noch von den alten korrupten Beamt_innen besetzt sind, dass die verschiedenen Oligarchen versuchen, ihre Machtbereiche abzustecken, dass ein Krieg vom Zaun gebrochen wurde und fortdauert, dass westliche Konzerne ihren Einfluss unter dem neuen pro-westlichen Präsidenten ausweiten wollen, um an Land und Rohstoffe zu kommen, kann nicht im Sinn der breiten Mehrzahl der Menschen sein, die aufgestanden sind. Aber hätten sie deshalb stillhalten sollen oder können?
Umso mehr kommt es in der nächsten Zeit darauf an, dass die Basisinitiativen in allen Bereichen der Gesellschaft Fuss fassen und präsent sind, und dass wir hier im Westen nicht «von oben herab» urteilen, sondern uns gemeinsam überlegen, wie diese zu unterstützen sind und wie eine langfristige Zusammenarbeit zustande kommen kann.

  1. Mitorganisatoren der Tagung: Longo maï, Netzwerk Schweiz-Transkarpatien / Ukraine (NeSTU), CEDRI und Freundeskreis Cornelius Koch. Der Anlass wurde mitunterstützt von der Wochenzeitung WOZ in Zürich
  2. Maidan: der zentrale Platz der Unabhängigkeit in Kiew, traditioneller Begegnungs- und Demonstrationsort

BUCHEMPFEHLUNG: «Euromaidan steht für die Hoffnung auf Erneuerung der ukrainischen Gesellschaft. Für eine nachgeholte Revolution. Für den Alptraum eines neuen Ost-West-Konflikts. (...) Schriftsteller, viele von ihnen Aktivisten, erzählen von den aufwühlendsten Tagen ihres Lebens. Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler versuchen sich an einer Anatomie des Augenblicks. Der Herausgeber Juri Andruchowytsch, geboren 1960, ist der bekannteste ukrainische Schriftsteller der Gegenwart». Soweit die kurze Beschreibung des Verlages zu einem empfehlenswerten Buch über die Maidan-Bewegung. Wer nicht nur den Medien Glauben schenken möchte und nicht nur an den geopolitischen Hintergründen interessiert ist, sondern auch begreifen möchte, wie die Menschen diese Zeit gelebt haben, möge dieses Buch zur Hand nehmen.
Euromaidan: Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, erschienen im Suhrkamp Verlag, Berlin, 2014