UKRAINE / SCHWEIZ: Die Ukraine im Umbruch

von Jürgen Kräftner, EBF Ukraine, 16.08.2014, Veröffentlicht in Archipel 228

Am 29. Juni fand in Bern eine Tagung zum Thema «Die Ukraine im Umbruch: Was können wir zur Stärkung der Zivilgesellschaft beitragen?» (1) statt. Die zahlreichen Teilnehmer_innen waren mit grossem Engagement dabei, um den Berichten der ukrainischen Gäste zu folgen und in den Arbeitsgruppen Ideen auszutauschen. Bei dieser Gelegenheit konnten wir Konstantin Reutskiy, Menschenrechtsaktivist aus der ostukrainischen Stadt Luhansk (2), über die Situation in der umkämpften Ostukraine befragen.

Archipel: Welches sind deiner Ansicht nach die Ursachen des bewaffneten Konflikts in Luhansk und Donetsk?

K.Reutskiy: Eine der Ursachen, und wahrscheinlich die wichtigste, liegt in der russischen Aussenpolitik und dem Willen Putins, die Ukraine auch nach der Maidan-Bewegung unter russischem Einfluss zu behalten. Die zweite Ursache, die ebenfalls entscheidend wichtig ist, sind die Bestrebungen der lokalen politischen und wirtschaftlichen Machthaber, ihren Einfluss und ihre wirtschaftlichen Aktiva in der Region zu verteidigen.

Wer sind diese lokalen Magnaten und was haben sie zu verlieren? Ich bin aus Luhansk und werde über diese Region sprechen. Die Hauptrolle spielt hier Aleksandr Jefremow. Er leitete von 1998 bis 2005 die staatliche Verwaltung von Luhansk. Während dieser sieben Jahre hat er hier ein starkes und für ihn sehr lukratives Beziehungsnetz aufgebaut. Die gesamte Verwaltung arbeitete zu seinen Gunsten. Mithilfe seiner Bank und einem Konglomerat von Firmen und Betrieben, die seinen Verwandten und Geschäftspartnern gehören, hat er mit kriminellen Methoden eine Reihe von Staatsbetrieben in den Bankrott getrieben und verkauft. Gleichzeitig sicherte er sich die Kontrolle über die wichtigsten Zweige der regionalen Schattenwirtschaft; zum Beispiel Schmuggel, illegaler Kohleabbau, illegaler Devisenhandel und Geldwäscherei. Der Machtwechsel in Kiew ist nicht nur eine Bedrohung für sein während Jahren aufgebautes Imperium; ihm drohen auch Gefängnisstrafen und eine Untersuchung wurde bereits eröffnet. Ich mache mir keine Illusionen über die neuen Machthaber und gehe davon aus, dass es zunächst nur um eine Teilung der Einflussbereiche ging. Aber offenbar hat Jefremow die Vorschläge der Emissäre der Übergangsregierung als nicht ausreichend empfunden und hat sich deshalb zu solchen extremen Massnahmen entschlossen. Er nutzt den traditionell starken Zuspruch der Luhansker Bevölkerung für die Partei der Regionen, er nutzt das Gefühl der persönlichen Verletztheit vieler Einwohner nach der Flucht von Präsident Janukowytsch und ihre allgemeine Enttäuschung, um die Situation zu verschärfen. Wahrscheinlich gab es zwischen Jefremow und der russischen Regierung Abmachungen. Er ist ein vorsichtiger Mensch und hätte sich auf solche gefährliche Aktionen nicht ohne Garantien von russischer Seite eingelassen. Andererseits können wir feststellen, dass Russland Jefremow für seine Interessen benutzt und alles dafür getan hat, die Situation unkontrollierbar zu machen, auch für Jefremow. Ich würde sogar sagen, dass Jefremows Einfluss auf den Konflikt inzwischen äusserst gering ist.

Inwiefern unterstützt die Luhansker Bevölkerung die Separatisten? Ich würde sagen, dass heute nicht mehr als 20 Prozent der Bevölkerung die Separatisten unterstützen. Zu Beginn des Konflikts waren es wahrscheinlich mehr, vermutlich etwa 30 Prozent, aber darunter befanden sich nur sehr wenige Menschen, die zu einer aktiven Teilnahme bereit waren. Im Allgemeinen ist die hiesige Bevölkerung sehr passiv und nicht gewohnt, ihre Interessen aktiv zu verteidigen. Zunächst war es eine sehr emotionale Reaktion. Erst drängten die lokalen Machthaber darauf, dass die Bevölkerung ihre Wahl für Viktor Janukowytsch verteidigen sollte. Als nach Janukowytschs Sturz bekannt wurde, wer er in Wirklichkeit war, waren die Menschen hier sehr enttäuscht; sie fühlten sich betrogen. In diesem Moment wurde ihnen eine Alternative vorgeschlagen, sie sollten an Putin glauben, was viele auch taten. Aber dann sahen die Menschen, wie sich die Anführer der Separatisten verhielten. Anstelle der versprochenen Gerechtigkeit und der von vielen Luhanskern gewünschten sozialen Gerechtigkeit herrscht Willkür, Raub, Chaos; es gibt keinerlei Sicherheit. Nun sympathisieren weit weniger Leute mit den Separatisten, übrig bleiben nur die am meisten verhetzten Menschen. Aber auch in der jetzigen Situation sind die meisten Reaktionen emotional begründet, die wenigsten versuchen zu analysieren, wie es so weit kommen konnte. Der Oblast (3) Luhansk wird derzeit zu etwas mehr als der Hälfte von Separatisten kontrolliert.

Welche Unterschiede siehst du zwischen dem von den Separatisten kontrollierten Süden und dem vom ukrainischen Staat kontrollierten Norden von Luhansk? Es gibt tatsächlich nicht nur deutliche Mentalitäts-Unterschiede zwischen der Bevölkerung von Luhansk und anderen Regionen der Ukraine, es gibt auch deutliche Unterschiede innerhalb des Gebiets. Der industrielle Süden und der landwirtschaftlich geprägte Norden der Oblast sind sehr verschieden. Im Süden haben die Menschen früher in erster Linie in der Industrie und in den Minen gearbeitet. Sie waren vom Arbeitsmarkt und den Besitzern der Betriebe abhängig. Das hat sie geprägt, sie sind weniger initiativ und selbständig. Daher sind sie auch heute sehr gerne bereit zu glauben, dass jemand ihnen das gibt, was sie sich wünschen. Sie zählen nicht besonders auf ihre eigenen Möglichkeiten. Im Norden von Luhansk gibt es kaum Industriebetriebe, die Menschen sind traditionell in der Landwirtschaft tätig. In den letzten Jahren haben sie sich daran gewöhnt, selbständig zu arbeiten. Daher sind sie mehr initiativ und verantwortungsvoll geworden. Separatistische Einstellungen haben im Norden nicht Fuss gefasst.
Vieles hängt natürlich von den regionalen Anführern ab. Diese haben sowohl in Donetsk als auch in Luhansk den ganzen Machtapparat in Bewegung gesetzt, um die Bevölkerung gegen Kiew aufzustacheln. Das tun sie auch jetzt noch. Die Bevölkerung wird unter Druck gesetzt, um sich an Unterstützungskundgebungen für die Luhansker und Donetsker Volksrepubliken zu beteiligen. Andere werden aufgefordert, ihre Arbeitsplätze zu verlassen und bei gleichbleibendem Lohn an den Barrikaden der Separatisten Wache zu schieben.
Die Ukraine ist leider bis heute ein äusserst korruptes und beinahe feudales Land, und für diejenigen, die an der Macht sind, ist es ziemlich einfach, die Bevölkerung zu ihren Zwecken einzusetzen.
Im April hast du selbst das Gespräch mit den Separatisten in Luhansk gesucht, wurdest darauf-hin während einiger Zeit im besetzten Gebäude des Staatssicherheitsdienstes festgehalten, hattest aber während dieser Zeit auch zahlreiche Diskussionen mit ihnen. Was hast du dabei erfahren?
Die Situation war im April noch völlig anders als jetzt. Diese Leute waren damals bereit zu Verhandlungen und Kompromissen. Wir hatten schwierige, aber auch konstruktive Gespräche. Es gab dann eine Phase grosser Ungewissheit, beinahe einen Monat lang. Die einheimischen Separatisten wurden angestiftet, alle möglichen Verwaltungsgebäude zu stürmen und zu besetzen, erhielten aber weiter keine Unterstützung. Es war unklar, ob Russland sie unterstützen würde. Sie waren auf sich selbst gestellt und daher auch kompromissbereit. Wenn die ukrainische Staatsmacht zu diesem Zeitpunkt eine klarere Position eingenommen hätte, wäre eine friedliche Lösung des Konflikts vielleicht noch möglich gewesen. Wir wissen, dass Verhandlungen geführt wurden, aber die Kiewer Seite war zu unklar, und die Verhandlungen sind gescheitert. Gleichzeitig wollte Russland eine friedliche Konfliktlösung verhindern und hat seinen eigenen Plan umgesetzt. Viele Waffen wurden geliefert und seither hat sich das extreme Szenario durchgesetzt.

  1. Das EBF war Mitveranstalter der Tagung neben Longo maï, dem Netzwerk Schweiz-Transkarpatien/Ukraine NeSTU, CEDRI und dem Freundeskreis Cornelius Koch. Die Wochenzeitung WOZ aus Zürich unterstützte die Veranstaltung.
  2. Konstantyn Reutskyi, freier Journalist und Blogger, engagiert sich seit Jahren als Menschenrechtsaktivist gegen Polizeiübergriffe, gegen Fremdenfeindlichkeit und für den Schutz von sozialen Randgruppen. Während der Maidan-Bewegung pendelte er zwischen Luhansk und Kiew. Am Beginn der Krimkrise setzte er sich auf der Halbinsel für den Schutz von gefährdeten Aktivist_innen und Minderheiten ein.
  3. Oblast = regionale Verwaltungseinheit