UNGARN: Wer Wind sät, wird Sturm ernten

von Gina Böni Budapest, 24.09.2011, Veröffentlicht in Archipel 196

Die Roma sind nach wie vor Spielball der Politik, sagt der enttäuschte Rom Janos Farkas, aus Gyöngyöspata. Er spielt damit auf die Tatsache an, dass bei der vorgezogenen Bürgermeisterwahl von den fünf Parteien nur die parlamentarische Rechtsaußen-Partei Jobbik einen Kandidaten stellte und somit das Terrain ihr alleine überlassen blieb.

Am 18. Juli war Wahlsonntag in Gyöngyöspata, in jenem Dorf, das dieses Jahr für einige Monate wegen Konflikten zwischen Roma und Neonazis in der Weltpresse Schlagzeilen machte. Im April hatten die seit Monaten schwelenden Konflikte den amtierenden Bürgermeister zum Rücktritt bewogen. Die vorgezogene Bürgermeisterwahl gewann der Agronom und Wachmann Oszkar Juhasz, der örtliche Vorsitzende der parlamentarischen Rechtsaußen-Partei Jobbik. Für Jobbik – auf deutsch «Die Besseren», stimmten von 1293 Wahlberechtigten 433, also rund 34 Prozent der DorfbewohnerInnen. Den Siegeszug der Ultrarechten verstärkten noch die zusätzlichen 134 Stimmen der paramilitärischen Organisation Vederö (Schutzmacht). Bei einer Stimmbeteiligung von 60 Prozent gewann der Rechtsaußenblock insgesamt 44 Prozent.
Damit ist Gyöngyöspata nach Hegyhathodasz, Hencida, Matraverebely und Tiszavasvari der fünfte Ort in Ungarn mit einem Jobbik-Bürgermeister. Worin sich Gyöngyöspata aber von den anderen Ortschaften unterscheidet ist die Tatsache, dass zum ersten Mal in dieser Region in der Person von Janos Farkas Junior auch ein Roma kandidierte. Der Web-Site Redakteur zog jedoch seine Kandidatur am Wahltag im allerletzten Moment ohne Begründung zurück.
Er hätte sowieso nicht gewonnen, spekulieren die einen. Falls doch – immerhin repräsentierte Farkas rund 270 stimmberechtigte Roma – «hätte dies den Krieg bedeutet im Dorf». «Noch sei man hier nicht in Amerika», meinte ein Dorfbewohner auf die Frage einer Reporterin, ob er sich in Gyöngyöspata wohl auch einen Roma als Bürgermeister hätte vorstellen können.
Der Sieg von Oszkar Juhasz dürfte indessen sowohl das Dorf als auch die politische Elite jeglicher Couleur im Lande überrascht haben, denn bei den letzten Kommunalwahlen im Herbst stand er mit 68 Stimmen noch an letzter Stelle.
Europäischer Trend?
Angesichts des jetzigen Jobbik-Sieges drängen sich viele Fragen auf: Unter anderem wie schaffte es Jobbik und welche Umstände haben diesen Sieg ermöglicht? Handelt es sich um einen rein ungarischen oder gar um einen europäischen Trend? Wie kommt es, dass das Post-Holocaust-Europa bis zum heutigen Tage unfähig ist, die seit Jahrhunderten mit uns lebenden jüdischen, Roma- und Sinti-Minderheiten voll zu akzeptieren? Und wie ist es möglich, dass die Europäische Union es duldet, dass EU-Bürger andere EU-Bürger diskriminieren, wie im Falle der rumänischen Roma in Frankreich, Italien, Griechenland und so fort?
Was können wir uns in dieser Situation überhaupt von Ungarn erwarten? Die Frage ist eine rein rhetorische und meint nicht die Entbindung Ungarns von der Eigenverantwortung. Mit anderen Worten, was mit den Roma hier passiert ist auch eine europäische Angelegenheit.
Denn das Erschreckende ist, dass die Ereignisse von Gyöngyöspata sich leider sowohl in Ungarn als auch in den Nachbarländern jederzeit ereignen oder wiederholen können. Besonders in jenen Ländern mit hohem Roma-Anteil. In Ungarn leben ca. eine Million Roma, also etwa 10 Prozent der Bevölkerung. In Europa bilden die rund 10 Millionen Roma und Sinti die größte Minderheit.

Einige Wochen vor den Wahlen

Gyöngyöspata (Perlenhuf), das idyllische Dorf in Nordungarn, am Fuße der Matra Gebirge mit rund 2800 EinwohnerInnen ist im Vergleich zu anderen Dörfern der Region keine arme Gemeinde. Die meisten Leute leben vor allem von Früchte- und Weinanbau und dem in- und ausländischen «Wellness»-Tourismus. Trotzdem, rund 240 Leute sind arbeitslos, davon gut die Hälfte Roma.
Zu den Sehenswürdigkeiten des Dorfes gehört ein einzigartiges Kunstwerk in Europa: Ein Altar, der den Stammbaum Jesu darstellt. Die gotische Kirche mit den romanischen Teilen aus dem XII. Jahrhundert steht auf einem Hügel inmitten des Dorfes, unweit vom Gemeindehaus. Unter dem Altar mit dem Jesse-Stammbaum in der Wehrkirche Jungfrau Maria beten jeden Tag bejahrte Nichtroma-Frauen um ihr Seelenheil. Von den meist tiefgläubigen Roma zeigt sich jeweils nur ein älteres Paar. Nur draußen setzen sich manchmal Roma-Jugendliche in den Schatten der Bäume der zur Kirche führenden breiten Treppe.
Ob im Lebensmittelgeschäft oder auf der Kirchentreppe, die Roma werden in Gyöngyöspata von vielen Nichtroma feindlich betrachtet. Besonders die Roma-Jugendlichen sind ihnen oft ein Dorn im Auge. Sie würden die alten Damen anbetteln, beschimpfen, belästigen und des Nachts gar bestehlen, erzählen einige Nichtroma-EinwohnerInnen der Reporterin aus der Stadt. «Bei mir sind sie des Nachts in den Keller eingebrochen und haben die Gartenwerkzeuge gestohlen», berichtet die eine. «Mir haben sie in meinem Rebberg die Pfähle gestohlen, vermutlich, weil sie was zum Heizen brauchten», klagt die andere. «Woher wissen Sie, wer es war? Haben Sie sie gesehen?», fragt die Reporterin. Die Frage bleibt unbeantwortet, denn plötzlich fallen sich die biederen Damen alle auf einmal ins Wort. Aus dem leidenschaftlichen Stimmengewirr hört man unisono: «Es waren diese arbeitsscheuen Zigeuner, diese kriminellen, denen jetzt mal endlich Mores beigebracht wird».
Die ehrwürdigen Damen, eben aus der Kirche kommend, stampfen entrüstet zum Gemeindehaus, wo sie Gabor Vona, der Parlamentarier und Parteichef von Jobbik zu einer «Anhörung» eingeladen hat, und wo sich schon weitere rund dreißig Einwohner, unter ihnen auch der Schuldirektor, versammelt haben. In diesem «Hearing» sind die Frauen eindeutig in der Überzahl. Sie klagen, schimpfen, weinen und danken Vona und dem örtlichen Jobbik-Chef Juhasz für ihre Anteilnahme an ihren täglichen Sorgen. Der Schuldirektor, ein T-Shirt der örtlichen Jobbik-Miliz tragend, bittet um verlängerte Präsenz von «Schönere Zukunft».
Alle danken, vor allem Oszkár Juhász. Er hatte im März die zur Jobbik gehörende paramilitärische Bürgerwehr, «Szebb JQvQért» – «Für eine schönere Zukunft», ins Dorf gerufen, um endlich Ordnung zu schaffen und die «Zigeunerkriminalität» im Ort zu bekämpfen. Aberhunderte Uniformierte, zu denen sich später auch «VéderQ» gesellte, paradierten wochenlang im Dorf auf und ab, Angst und Schrecken verbreitend, vor allem unter der Roma Bevölkerung, während Regierung und Behörden tatenlos zuschauten, bis sie endlich, nach einigen Wochen, ihre Pflicht – teilweise – wahrnahmen. Aber auch die größte Oppositionspartei, die Sozialistische Partei (MSZP), schwieg sich aus und glänzte mit Abwesenheit.
Auch die vielen in- und ausländischen Touristen blieben weg. Istvan Simo, der Besitzer der Familienpension «Patavar», erzählt, dass seit Beginn der Konflikte rund 500 angemeldete Gäste abgesagt hätten. Der pragmatische Geschäftsmann, der viele Jahre in Deutschland gelebt hat und zugleich in der Finanzkommission der Gemeinde Gyöngyöspata sitzt, kritisiert auch seine Kollegen und Kolleginnen. Sie hätten in all den Jahren nichts unternommen, um zum Beispiel die Arbeitsmarktsituation im Dorfe professionell anzugehen.
Die Sicht der Roma
Vater und Sohn János Farkas sind die offiziellen Vertreter der örtlichen Zigeuner-Selbstverwaltung (CKÖ). Sie vertreten die 450 Roma in der Gemeinde. Im Gespräch mit ihnen wird klar, dass die ohnehin schon delikate Beziehung zwischen den Roma und Nichtroma sich eigentlich seit 2006 eindeutig verschlechtert hat. «In der Tat hatten wir drei Jungen, die kriminell wurden. Aber sie sind verurteilt worden und sitzen eben ihre Strafen ab. Aber anscheinend genügt das den Leuten nicht, sie betrachten uns alle als Kriminelle, und das ist das eigentliche Problem», sagt Farkas Senior. «Sie beschuldigen uns, dass wir ihre Rebberge zerstört und bestohlen hätten. In Wahrheit haben sich die Besitzer einfach nicht um ihr Gut gekümmert, haben es verlottern lassen und schieben nun uns die Schuld zu», fügt Farkas hinzu.
Gemeint ist der Rebhügel «Kecskekö» (Ziegenstein), wo sich auch die Weinkeller befinden, gleich oberhalb der Roma-Siedlung.
Die paramilitärische Organisation «Vederö» hatte ihn von den Rebbergbesitzern für den symbolischen Betrag von nur einem Forint erworben. «Vederö» wollte den Hügel als Übungsgelände benutzen und an Ostern einweihen. Das war auch der Moment, an dem das ungarische Rote Kreuz zusammen mit einem damals noch in Ungarn lebenden amerikanischen Geschäftsmann die Roma-Frauen und -Kinder aus dem Dorf evakuierte.

Die Wahlkampagne

Es herrschte wochenlang bürgerkriegsähnliche Stimmung im Dorf. Dies trotz der Anwesenheit mehrerer Hundertschaften Polizisten. Zwar durften später laut der neuen Gesetzesverordnung von Seiten der Regierung, Vedero und ähnliche Organisationen nicht mehr in ihren Uniformen auf und ab marschieren, aber sie konnten weiterhin im Dorf bleiben. Was die Roma als eindeutige Provokation empfanden.
Auch Jobbik-Chef Juhasz wollte Vedero weghaben. Schließlich waren sie seine schärfsten Konkurrenten. «Ich bin mit ihren Methoden nicht einverstanden», erzählt er der Reporterin. Dies sei nicht die Art und Weise, wie man die Probleme löse.
Einen Moment lang fühlten sich auch die in Not gedrängten Roma in Versuchung, für Juhasz zu stimmen. Schließlich war er im Gegensatz zum Vedero Kapitän, Tamas Eszes, einer aus dem Dorf, und lehnte auch Gewalt ab. Juhasz schien also von zwei Übeln der geringere zu sein. Doch die Roma besannen sich eines Besseren.
Trotz den bizarren Umständen entschied sich Janos Farkas, der Jüngere, im Namen seiner Roma-Gemeinde zu kandidieren. «Es sollte eine Botschaft sein, nicht nur an meine Dorfleute, sondern an alle Roma im Lande: Wir sollten zusammenhalten und uns nicht mehr als Spielball der Parteien benutzen lassen.» Gemeint ist die Tatsache, dass vor den Wahlen die Parteien plötzlich die Roma entdecken und als potentielle Wähler um sie werben. Denn die Roma sind bei Wahlen oft das Zünglein an der Waage. Letztes Jahr stimmten die meisten Roma für FIDESZ, die gegenwärtig regierenden Partei.
Farkas’ Kandidatur entwickelte sich zu einer Nervenprobe. Nicht nur wegen der Stimmung im Dorf. Die Farkas’ hatten kein Geld für Wahlplakate oder Kampagnenmeetings. Zudem war der Andrang der Kandidaten und Kandidatinnen ungewöhnlich groß: Es bewarben sich acht Leute. Außer dem Jobbik-Juhasz waren alle Parteiunabhängige.
In der Tat eine merkwürdige Wahlkampagne. Zur Bürgermeisterwahl in Gyöngyöspata stellten weder FIDESZ, noch die Sozialisten (MSZP), die größte Oppositionspartei, noch die neue, eher grün orientierte Partei, «Politik kann anders sein» (LMP) einen Kanditaten. Der auf dem Lande schwach vertretenen LMP ist immerhin zu Gute zu halten, dass sie der Roma Gemeinde ständig Hilfe leistete. Auch NGOs wie zum Beispiel die «Ungarische Vereinigung zur Verteidigung der Bürgerrechte (TASS)» und einige Zivile taten ihr Bestes.
Vergeblich. Der Geist ist der Flasche längst entwichen. Eine von Amnesty International zitierte Analyse aus dem Jahre 2005 zeigt, dass 80 Prozent der ungarischen Bevölkerung denkt, dass die Probleme der Roma gelöst wären, wenn diese einfach nur endlich arbeiten würden - das klingt im heutigen Ungarn wie ein schlechter Witz. Laut offiziellen Angaben sind über eine halbe Million Menschen arbeitslos; dem gegenüber stehen 50.000 offene Arbeitsstellen. 62 Prozent sind der Meinung, dass der Hang zur Kriminalität den Roma im Blut liege…
Wie auch immer, die Umfrage zeigt die geistigen und mentalen Voraussetzungen in diesem Land. Und sie zeigt auch, weshalb es für Jobbik ein Leichtes ist, Furore zu machen.
Um zumindest eine der eingangs aufgeworfenen Fragen zu beantworten: In einem Pester Lloyd Interview umreißt die Juristin und TASS-Mitarbeiterin, Eszter Jovanovics, es wie folgt: «Schwerpunkt der Jobbik-Politik ist blanker, knallharter Antiziganismus. Sie setzen ihre rassistische Ideologie ein, um auf WählerInnenfang zu gehen.” Den Erfolg ihrer Politik beweisen die fünf Jobbik-besetzen Orte im ländlichen Ungarn.
Laut Jovanovics stellen die Vorgänge in Gyöngöspata eine neue und geplante Taktik von Jobbik dar. «Von einem Tag auf den anderen haben sich die Rechtsextremisten das Recht angemaßt, die öffentliche Sicherheit allein zu gewährleisten, mit dem Hinweis darauf, dass der Staat dies nicht könne.»
In der Tat, im Falle der paramilitärischen Organisationen scheint der Staat zu versagen. Mittlerweile gibt es laut dem Athenainstitut über zwanzig solche Organisationen. Die Ereignisse in Gyöngyöspata haben in der Dorfgemeinschaft und im Staat eine tiefe Kerbe geschlagen und die Rechtssicherheit in Frage gestellt.