Zwischen Repression und Selbstermächtigung

von Alexander Behr, EBF, 18.01.2019

Am ersten Dezemberwochenende fand in der marokkanischen Hauptstadt Rabat die erste Konferenz der ARCOM statt. Die „Association des Refugi-é-s et Communautés Migrantes“, also die „Vereinigung der Geflüchteten und migrantischen Communities“ gilt aktuell als die wahrscheinlich dynamischste und stärkste Gruppe aus dem Spektrum der selbstorganisierten Migrant_innenvereine in Marokko. Die ARCOM wurde im Jahr 2005 von einer Gruppe von Geflüchteten aus der Demokratischen Republik Kongo gegründet, darunter der Buchautor und Aktivist Emmanuel Mbolela. Die Gruppe kann bereits auf eine Vielzahl von Aktionen zurückblicken. Seien es Proteste gegen Abschiebungen in das marokkanisch-algerische Grenzgebiet, Widerstand gegen Polizeigewalt, gegen die Externalisierung des EU-Grenzregimes sowie gegen die Passivität des UNHCR, oder Kampagnen für den Zugang zu Gesundheitsversorgung und für die Legalisierung von Papierlosen: Die Arbeit der ARCOM hat in unzähligen Fällen konkrete Hilfe geleistet und wohl oft auch Leben gerettet. Außerdem brachte die ARCOM die „Stimme der Stimmlosen“, also der Illegalisierten, mit Nachdruck in den öffentlichen Diskurs – sowohl in Marokko als auch in Europa. Die Gruppe ist Teil des Netzwerks Afrique Europe Interact und arbeitet eng mit dem Europäischen BürgerInnen Forum zusammen. Im Jahr 2014 gründete die ARCOM ein Frauenhaus für subsaharische Migrantinnen und schuf damit zum ersten Mal in der Geschichte Marokkos einen Ort, an dem von Gewalt Betroffene migrantische Frauen in Sicherheit sind.

In den 13 Jahren ihrer Existenz gelang es der ARCOM jedoch niemals, eine eigenständige Konferenz zu organisieren – dies lag jedoch nicht etwa an fehlenden organisatorischen Kapazitäten der Gruppe, die mittlerweile zehn dauerhafte, mehrheitlich ehrenamtlich arbeitende Mitglieder umfasst. Vielmehr erschwerte das politische Klima in Marokko die Selbstorganisation von Geflüchteten seit jeher massiv. Und auch die Konferenz Anfang Dezember stand buchstäblich bis zur letzten Minute auf Messers Schneide: Die ARCOM, die einen großen Saal im Stadtteil Hay Nada gemietet hatte, musste hohe behördliche Auflagen erfüllen, die von den zuständigen Beamten völlig unerwartet am Tag vor dem Beginn der Konferenz aufoktroyiert wurden. Zudem wurden mehreren Teilnehmer_innen die aktive Teilnahme an der Konferenz schlichtweg untersagt – betroffen waren vor allem Organisationen aus der marokkanischen Zivilgesellschaft, unter anderem die Menschenrechtsgruppe GADEM, die wenige Monate zuvor einen ausführlichen, kritischen Bericht über die Abschiebungen von Migrant_innen durch die marokkanische Polizei veröffentlicht hatte. Aus all diesen Gründen war noch am Morgen des ersten Tages der Konferenz völlig unklar, ob das geplante Ereignis überhaupt durchgeführt werden könne. Als dann trotz stark verzögerter Beginnzeit über 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – mehrheitlich Migrant_innen aus Ländern südlich der Sahara – erschienen, war die Erleichterung groß. Der starke Zuspruch war laut der Einschätzung mehrerer Mitglieder der ARCOM unter anderem darauf zurückzuführen, dass es in den migrantischen Communities viel Wut und Frustration gibt: Die Überwindung der Grenzzäune rund um Ceuta und Melilla wird immer schwieriger, in Marokko sind Verhaftungen und Rückschiebungen in den südlichen Teil des Landes seit dem Sommer wieder an der Tagesordnung. Die Geflüchteten sind also blockiert. Vor dem Hintergrund dieser Umstände hätte der Titel der Konferenz nicht besser gewählt sein können: „La Voix aux Migrant-e-s“ - also „das Wort den Migrant_innen“ - die Betroffenen sollten selbst sprechen. Allassane Dicko von der AME, der Vereinigung der Abgeschobenen aus Mali, moderierte das zweitägige Zusammentreffen. Denn es war der dezidierte Anspruch der Konferenz, transnationale Verbindungen zwischen sozialen Bewegungen zu stärken sowie neue Verbindungen herzustellen. Das Ziel bestand darin, den geographischen Bogen von West- und Zentralafrika über den Maghreb bis nach Europa zu spannen. Ebenfalls vertreten waren Aktivist_innen des Watch the Med Alarm Phone aus Tanger im Norden des Landes. Das Watch the Med Alarm Phone ist ein Netzwerk zur Seenotrettung im Mittelmeer, das vor mittlerweile fünf Jahren gegründet wurde. Eine Telefonhotline, die rund um die Uhr betreut wird, nimmt Anrufe von Schiffbrüchigen entgegen und leitet die Informationen sowie den Standort des Bootes an die Seenotrettungen der zuständigen Länder weiter. Die Arbeit des Alarm Phones ist angesichts der sich verschärfenden Kriminalisierung privater Hilfsorganisationen im Mittelmeer von zentraler Bedeutung. Des weiteren nahmen Aktivist_innen des transnationalen Netzwerks Afrique Europe Interact teil, die vor kurzer Zeit das Alarm Phone Sahara gründeten. Das Alarm Phone Sahara will wie das Watch the Med Alarm Phone eine verlässliche und stabile Grundlage für die Notrettung von Flüchtenden organisieren – Schätzungen zufolge sterben bei der Durchquerung der Sahara mindestens genauso viele Menschen wie bei der Überquerung des Mittelmeers. Einen besonders zentralen Platz bei der Konferenz hatten die Beiträge migrantischer Frauen. Viele von ihnen leben aktuell im Frauenhaus der ARCOM. Das Frauenhaus umfasst mittlerweile fünf angemietete Wohnungen, die meisten von ihnen liegen im Stadtteil Hay Nada, wo auch die Konferenz stattfand. Rund 50 Frauen leben aktuell in den Strukturen des Frauenhauses, der Großteil von ihnen kommt aus der Elfenbeinküste, aus Guinea, der RD Kongo, aus Mali oder Benin – viele von ihnen haben kleine Kinder. Ihre Fluchtgründe sind divers: Frauen aus der RD Kongo oder aus der Elfenbeinküste fliehen vor den Auswirkungen der dortigen Kriege; Zahlreiche Frauen berichteten von patriarchaler Gewalt, insbesondere von Zwangsverheiratungen. Viele sprachen davon, dass ihre Gewalterfahrungen keineswegs mit der Flucht zu Ende waren – auch in Marokko sind sie sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Besonders schlimm sind die Übergriffe im marokkanisch-algerischen Grenzgebiet. Die Gewalt geht meist von Grenzpolizisten und Militärs aus, teils aber auch von mitreisenden Migranten.

Das Programm der Konferenz bestand jedoch nicht zur Gänze aus Podiumsdiskussionen und Redebeiträgen: Eine Reihe von Migrant_innen präsentierten „Slam“-Vorführungen, also Spoken Word-Performances. Rund zwanzig Kinder und Jugendliche aus dem Umfeld der ARCOM brachten ein eindrucksvolles Theaterstück zur Aufführung – zentrales Thema war dabei die Förderung des friedlichen und solidarischen Zusammenlebens zwischen marokkanischen und migrantischen Kindern und Jugendlichen. Ein großartiger Erfolg in diesem Zusammenhang ist, dass in den Theaterkursen der ARCOM nicht nur Kinder von Geflüchteten mitwirken, sondern auch solche aus marokkanischen Familien. Abends gab es Live-Musik einer kongolesischen Gruppe – von Bob Marley bis zum berühmten und viel gefeierten „Rumba Congolais“.

Für die sozialen Bewegungen und Strukturen, die die Arbeit der ARCOM diesseits und jenseits des Mittelmeers unterstützen, dürften sich in der kommenden Zeit folgende Aufgaben stellen: Erstens steht für die ARCOM die Überlegung im Raum, ein soziales Zentrum für Migrant_innen zu gründen – eventuell mit einem Restaurantbetrieb, und wenn möglich in räumlicher Nähe der fünf Wohnungen des Frauenhauses. Dafür wird es notwendig sein, finanzielle Unterstützung in Europa zu organisieren. Zweitens ist es wichtig, die Strukturen des Mittelmeer- Alarmphones sowie des Alarmphone Sahara zu stärken. Möglichst viele Migrantinnen und Migranten müssen von der Möglichkeit wissen, dass sie im Notfall auf eine Rettung in der Wüste oder auf hoher See zählen können. In der wichtigen Transit-Stadt Rabat kann die ARCOM hier eine Schnittstelle darstellen. Drittens muss die Kritik an der Externalisierung des EU-Grenzregimes verstärkt werden. Hier wird es besonders wichtig sein, oben genannte transnationale Bündnisse zu schaffen, von Mali und Niger über die Länder des Maghreb bis nach Europa. Denn die Europäische Union verstärkt den Druck auf die Länder des Maghreb sowie die Länder der Sahel-Zone immer mehr. Unverhohlen werden auch Mittel aus der Entwicklungszusammenarbeit dafür eingesetzt, Migrationsabwehr zu betreiben. Das haben zuletzt unter anderem Simone Schlindwein und Christian Jakob in ihrem Buch „Diktatoren als Türsteher Europas“ nachgewiesen. Viertens sollte das Buch des ARCOM-Gründers Emmanuel Mbolela weitere Verbreitung finden. Mbolela berichtet darin über den Widerstand gegen das Regime von Joseph Kabila in der der Demokratischen Republik Kongo, über seine Flucht, über seine Aktivitäten in Marokko und die Gründung der ARCOM bis hin zur Arbeit von Afrique Europe Interact. Das Buch ist ein wichtiges Werkzeug im Aufbau von politischer Solidarität und kommt unter anderem in unzähligen Schulen zum Einsatz. Des weiteren dient es als zentrales tool für das Einwerben von Spenden für das Frauenhaus in Rabat. Nachdem das Buch im Jahr 2014 auf deutsch erschienen ist, publizierte das Europäische BürgerInnen Forum im Jahr 2017 eine französische und in diesem Jahr eine italienische Version. Übersetzungen auf spanisch und holländisch liegen vor, hier werden noch Verlage gesucht. Im Herbst 2019 soll bei Farrar, Straus & Giroux in New York die englische Ausgabe erscheinen. Fünftens geht es darum, gemeinsam Druck aufzubauen und den marokkanischen Staat dazu zu bewegen, eine weitere Legalisierungskampagne zu eröffnen. Nachdem es für Illegalisierte in den Jahren 2014 und 2016 bzw. 2017 bereits möglich war, unter gewissen Auflagen zu Aufenthaltspapiere zu kommen, wäre es höchste Zeit, diese Möglichkeit wieder zu eröffnen. Dies würde einen wichtigen Schutz gegen willkürliche Gewalt von Seiten der Polizei darstellen und vor allem Arbeitsmöglichkeiten eröffnen. Last but not least sollte in der gemeinsamen politischen Arbeit die Ausplünderung der Ressourcen in den Herkunftsländern der Geflüchteten thematisiert werden. Nicht umsonst hat sich das Netzwerk Afrique Europe Interact auf die Fahnen geschrieben, nicht nur für das Recht zu gehen zu kämpfen, sondern auch für das Recht zu bleiben; also für das Recht, unter würdigen und guten Bedingungen dort leben zu können, wo man aufgewachsen ist. Diese Forderung kam während der Konferenz in mehreren Redebeiträgen klar zum Ausdruck: So wies Emmanuel Mbolela im Eröffnungsvortrag der Konferenz ein mal mehr darauf hin, dass das Coltan aus dem Kongo frei reisen kann; ebenso das Gold aus Mali, der Kakao aus der Elfenbeinküste oder das Erdöl aus Nigeria – den Menschen allerdings wird die Reisefreiheit verwehrt. Europa behauptet, so Mbolela, dass es nicht möglich sei, das Elend der ganzen Welt aufzunehmen – doch anscheinend ist es für Europa seit Jahrhunderten sehr wohl möglich, die Reichtümer aus aller Welt aufzunehmen. Das, so der Grundtenor der Konferenz, muss sich grundlegend ändern!

Alexander Behr, EBF