CHIAPAS/EUROPA: Aus den Bergen Südostfrankreichs

von Cédric Bertaud, Radio Zinzine, 14.12.2021, Veröffentlicht in Archipel 309

Seit Mitte September sind 177 Zapatistas auf ihrer „Reise für das Leben“ in Europa unterwegs und treffen mit Menschen von etlichen Kollektiven und Projekten in der Stadt und auf dem Land zusammen. Wir haben sie in Österreich, der Schweiz und Frankreich getroffen. Hier ein Bericht aus dem südostfranzösischen Blickwinkel.

Am 12. Oktober, dem Jahrestag der angeblichen Entdeckung Amerikas, traf eine Delegation von Zapatistas in Südostfrankreich ein, gemeinsam mit einer Gruppe von Delegierten des mexikanischen „Nationalen Indigenen Kongresses“. Drei Wochen lang trafen sie sich mit den Bewohner⸱innen und Initiativen in der Region. Insgesamt bereisen 28 Gruppen zu je fünf Personen drei Monate lang fast ganz Europa.

Die Reise für das Leben, die von der zapatistischen Bewegung initiiert wurde, war als ein doppelter Austausch gedacht. Auf der einen Seite erzählten die Zapatistas die Geschichte ihrer Organisation und auf der anderen Seite stellten die gastgebenden Kollektive ihre jeweiligen Kämpfe und lokalen Probleme vor. Die Zapatistas hatten fünf Punkte zu präsentieren, die, wenn man ihnen Zeit liess, mehrere Stunden in Anspruch nehmen konnten. Die Geschichte beginnt mit der Ausbeutung auf den „Fincas“, den grossen Landgütern, auf denen die Indigenen von Chiapas jahrzehntelang versklavt, gefoltert und vergewaltigt wurden.

Aus dem Untergrund

Im Jahr 1983 ging eine Gruppe von sechs Personen, drei Mestizen und drei Indigene, in den Lakandonischen Urwald und gründete am 17. November die EZLN, die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung. Es folgten mehr als zehn Jahre im Untergrund, in denen die Organisation nach und nach immer grösser wurde. Es ist jetzt das erste Mal, dass die Zapatistas über die Zeit im Untergrund sprechen. Und es stimmt, dass es eine enorme Leistung war, eine Armee von mehreren Tausend Menschen aufzubauen, ohne dass der mexikanische Staat etwas davon gemerkt hatte. Dann kam es am 1. Januar 1994 zum Aufstand mit der Kriegserklärung der EZLN an den mexikanischen Staat und der Besetzung von fünf Städten in Chiapas. Nach ihrer Idee, die auf einem alten maoistisch-guevaristischen Hintergrund beruht, sollte die EZLN die Städte und Dörfer befreien – mit Mexiko-City am Schluss – und das Volk würde dann seine Regierung demokratisch ernennen.

Das Volk antwortete aber nicht so, wie sich die EZLN dies vorgestellt hatte. Vielmehr mobilisierten sich die Mexikaner⸱innen massiv und stellten sich zwischen die beiden Armeen, um den Krieg zu beenden und Verhandlungen zu erzwingen. Die weitere Geschichte ist bekannt: Friedensgespräche, die Entwicklung der MAREZ, der autonomen zapatistischen Rebellengemeinden; der Verrat durch die Regierung im Februar 1995, als diese versuchte, die Kommandantur der EZLN auszuheben, nachdem sie vorgegeben hatte, verhandeln zu wollen; die Schaffung der „Aguascalientes“, Orte des Kontakts zwischen der zapatistischen Bewegung und der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft; die Unterzeichnung des Friedensabkommens von San Andrés Larrainzar 1996 und dessen Nichtumsetzung; der „Marsch der Farbe der Erde“ 2001, um ein letztes Mal die Umsetzung des Friedensabkommens zu fordern, und der x-te Verrat des mexikanischen Staates mit seiner Weigerung und seinem Rassismus gegen die indigene Bevölkerung. Und schliesslich die Gründung der „Caracoles“ im Jahr 2003 zusammen mit den „Räten der Guten Regierung“ und der Entwicklung der zapatistischen Autonomie. Das Hauptinteresse der einladenden Kollektive galt dann auch dieser zapatistischen Autonomie in den verschiedenen Bereichen (Gesundheit, Bildung, Justiz, Agrarökologie, Kunst und Kultur, etc.) und ihrem heutigen Funktionieren. Doch die Zapatistas wollten über ihre gesamte Geschichte sprechen und legten dabei auch Wert auf die Zeit im Untergrund.

25 Jahre Nationaler Indigener Kongress

Vertreter⸱innen des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) hatten die Einladung der Zapatistas angenommen, an der Tournee durch Europa teilzunehmen. Das war eine Gelegenheit, auf das 25-jährige Bestehen dieser Organisation zurückzublicken, die versucht, alle indigenen Kämpfe in Mexiko zu vereinen. Dabei kam auch die letzte grosse Initiative, die während des letzten Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2017 gestartet worden war, zur Sprache. Der CNI wollte über eine extra zu diesem Anlass geschaffene Instanz, nämlich den Indigenen Regierungsrat (Consejo Indígena de Gobierno, CIG), bei der Wahl antreten. Die Idee hinter diesem Versuch war nicht, die Macht zu übernehmen, sondern den CNI-CIG sichtbar zu machen und zu stärken. Der CIG besteht aus 150 Mitgliedern, Männern und Frauen, die alle 64 indigenen Völker (oder Sprachen, wie sie es lieber nennen) vertreten. Da es nicht möglich war, so viele Kandidat⸱inn⸱en aufzustellen, wurde eine Sprecherin ernannt, welche die Kandidatur vorantreiben sollte. Zum ersten Mal war angekündigt worden, dass das mexikanische Wahlsystem eine parteiunabhängige Kandidatur zulassen würde – jedoch unter einer Bedingung: Für deren Annahme mussten fast eine Million Unterschriften gesammelt werden. Erschwerend kam hinzu, dass die Unterschriften auf modernsten Smartphones geleistet werden mussten, die sich viele Gemeinden nicht leisten können, ganz zu schweigen von der Unzugänglichkeit des Internets. Kurz gesagt, der staatliche Rassismus hatte wieder zugeschlagen und die Kandidatur verhindert. Dennoch wurde die Wette teilweise gewonnen, da der CNI-CIG nun in Mexiko viel bekannter ist und auch von Kreisen unterstützt wird, die nicht nur indigen sind, wie z. B. in bestimmten Arbeitervierteln.

Sie wehren sich

Die CNI-CIG-Delegierten kamen aus ganz Mexiko und berichteten u.a. über geplante und bereits laufende zerstörerische Megaprojekte, die von der angeblich linken mexikanischen Regierung initiiert oder gefördert werden. Eine Art Gruselkabinett tat sich vor unseren Augen und Ohren auf: zuerst der sogenannte Maya-Zug, der die gesamte Halbinsel Yucatán von Cancún bis zum zapatistischen Land von Palenque in Chiapas durchqueren soll. Um den Zug herum werden Luxushotels und andere touristische Einrichtungen entstehen, von denen die indigene Bevölkerung ausgeschlossen werden soll und wo sie höchstens als Kloputzer⸱innen Eingang finden wird. Die Sorge der indigenen Gemeinden gilt dem Zugang zu Wasser, der den Tourist⸱innen bevorzugt gewährt werden soll. Problematisch ist aber auch die Erzeugung von Strom durch riesige Windräder und Photovoltaikanlagen. Ausserdem werden mit dem Tourismus vermehrt Drogenhandel und Prostitution Einzug halten. Wo viel Geld auf dem Spiel steht, ist Europa nicht weit. So ist zum Beispiel die „Deutsche Bahn“ im Maya-Zug-Projekt stark impliziert.

Ein Zug kann einen anderen verbergen: So soll am Isthmus von Tehuantepec, (dem schmalsten Teil Mexikos zwischen dem Karibischen Meer und dem Pazifischen Ozean), der Trans-Isthmus-Zug zum Einsatz kommen. Da der Panamakanal überlastet und angesichts der Entwicklung von Containerschiffen teilweise veraltet ist, soll er durch den Bau einer Zugstrecke verdoppelt werden. Dies würde allerdings die Entwicklung von zwei riesigen Häfen erfordern und wäre gleichzeitig eine Gelegenheit zur Schaffung von Freihandelszonen für Fabriken multinationaler Unternehmen. Der Isthmus von Tehuantépec stand bereits im Mittelpunkt eines Kampfes gegen die Einrichtung von unzähligen Windkraftwerken durch den Landraub in den indigenen Gemeinden. Hier sind auch westliche Konzerne am Werk, darunter das französische Staatsunternehmen EDF.

Ein weiteres stark umstrittenes Projekt, das zur Ermordung des indigenen Oppositionellen Samir Flores Soberania führte, ist das „Integrale Projekt Morelos“. In den drei Bundesstaaten Morelos (Zapatas historisches Land), Tlaxcala und Puebla wird eine Gaspipeline am Fusse des immer noch aktiven Vulkans Popocatepetl gebaut, um ein thermoelektrisches Kraftwerk zu betreiben, das Energie für Autofabriken und andere Unternehmen liefern soll. Obwohl die Beteiligung europäischer, kanadischer und US-amerikanischer Konzerne an all diesen Projekten bewiesen ist, so ist es doch oft schwierig, diese zu erkennen, weil sie mexikanische Decknamen verwenden. Es war eine der Forderungen des CNI, in Europa herauszufinden, welche Unternehmen tatsächlich beteiligt sind, um sie hier anprangern zu können. Er erwähnte noch die Firma Danone, die das Grundwasser verbraucht, um es dann in Flaschen zu verkaufen.

Europa ist nur der Anfang

Die Delegation reiste durch einen Grossteil der Region PACA (Provence Alpes Côte d‘Azur), beginnend im Norden bei einem Empfang in der Spinnerei-Kooperative von Longo maï in Chantemerle bei Briançon. Die Genossenschaftsbewegung Longo maï und das Europäische BürgerInnen Forum arbeiteten für die ganze Tournee eng zusammen. Bei dieser Gelegenheit fand auch ein Treffen mit Kollektiven statt, die in den französisch-italienischen Alpen Flüchtlingen in Bergnot helfen. Danach wanderten wir mit der Schafherde von Longo maï, die sich auf der Transhumanz von den Alpen in Richtung Provence befand, zu einer Etappe in den Bergen oberhalb des Sees von Serre-Ponçon. Auch wenn ich hier jetzt nicht alle Stationen und Zusammenkünfte auf der Tournee würdigen kann, so möchte ich auf alle Fälle das Fest mit der „Confédération Paysanne“ (der linken Bauern- und Bäuerinnengewerkschaft) erwähnen sowie die Besuche der Longo-maï-Kooperativen im Luberon, in der Crau und in der Haute Provence. Auch das Zusammentreffen mit anderen Initiativen zur Verteidigung der landwirtschaftlichen Flächen gegen die Bodenspekulation in dieser Gegend wollen wir nicht vergessen, genauso wie der Austausch mit dem „Kollektiv zur Verteidigung der migrantischen Arbeiter⸱innen in der industriellen Landwirtschaft“ (Codetras). In Marseille waren die Zapatistas von mehreren Gruppen eingeladen, die sich für diskriminierte Menschen wie Migrant⸱inn⸱en, Obdachlose, Hungernde und andere in der Stadt einsetzen.

Die Zapatistas haben angekündigt, dass sie alle fünf Kontinente besuchen wollen und dass Europa nur der Anfang sei. Möglicherweise kommt es später aber auch zu einer zweiten Tournee durch Europa. Die zapatistische Bewegung lernt auf diese Art die soziale, politische und kämpferische Realität in Europa kennen wie wohl niemand sonst. Nach ihrer Rückkehr nach Chiapas werden sie all ihre Erfahrungen in den Caracoles weitergeben. Und die Zukunft wird zeigen, was aus dieser Reise für das Leben hervorwachsen wird, sowohl von den Samen, welche die Zapatistas in Europa ausgesät haben, als auch von denjenigen, die sie aus den ganzen Besuchen und Gesprächen bei uns mitgenommen haben. Jedenfalls ist sicher, dass etwas aus dieser Initiative keimen wird.

Cédric Bertaud, Radio Zinzine