DOSSIER OST / SERBIEN: Vom Regen in die Traufe

von Božidar Jakšiæ, Belgrad *Artikel vom 21. Mai 2012, 01.12.2012, Veröffentlicht in Archipel 208

Unser langjähriger Freund Božidar Jakšić, emeritierter Soziologie-Professor aus Belgrad, verbrachte im Mai dieses Jahres einige Zeit auf unserem Longo maï Hof in Kärnten, als in Serbien gerade Wahlen stattfanden. Wir haben ihn um einen Kommentar zu den Wahlen gebeten, bei denen der ehemalige Ultranationalist Tomislav Nikoliæ den Sozialdemokraten Boris Tadiæ als Staatspräsidenten ablöste.

Die Wahlen 2012 in Serbien sind vorbei*. Die serbischen Wähler haben neue Gemeinderäte, ein neues Parlament und einen neuen Staatspräsidenten gewählt. Die Wahlresultate wurden bekannt gegeben, und nun sollte man nüchterne Antworten auf zwei einfache aber wesentliche Fragen geben, die vor und während der gesamten Wahlperiode im Raum standen: erstens, was wurde den Wählern als Wahlmenü angeboten und, zweitens, welche Wahl hat die Wählerschaft getroffen.

Das Wahlmenü enthielt alles Mögliche, vor allem unrealisierbare Versprechen eines reichhaltigen populistischen Repertoires. In Serbien überwiegt populistische Politik und ist unschlagbar, wenn es um unrealistische Versprechen geht, die nichts kosten und kurzfristige politische Gewinne abwerfen. Diese Versprechen bewährten sich als wirkungsvolle Werkzeuge der Propaganda, da sie einer leichtgläubigen Wählerschaft serviert wurden, die an Betrug gewöhnt ist. Dann kamen Gerüchte und Schreiereien, die an einen Rummelplatz erinnerten, reichlich gewürzt mit kleinen und großen Lügen und billigen Anschuldigungen. Einige nackte Wahrheiten gelangten dennoch durch dieses demagogische Chaos. Der Charakter der Wahlen wurde geprägt von dem ausgesprochenen Widerwillen der serbischen Eliten sich mit den Fragen, die sich aufgrund der derzeitigen ernsthaften Krisen in der Welt stellen, auseinanderzusetzen und auf die serbische Politiker keine echten Antworten haben und für lange Zeit auch nicht haben werden.
Die Elite will Teil einer größeren Welt sein und will es dann wieder nicht. Das erinnert an die Wahlen in einigen europäischen Ländern in den 1930er Jahren. Weder Außenpolitik noch der Kosovo waren Themen seriöser, politischer Debatten, wenn solche Debatten überhaupt stattfanden. Was den Kosovo angeht, so kann man das als positiven Punkt der Wahlen festhalten, denn das Leben wäre unerträglich geworden unter dem Ballast schwülstiger nationalistischer Rhetorik. Das wichtigste Thema – der niedrige Lebensstandard – wurde auf den Lärm über die Schaffung einiger neuer Arbeitsplätze reduziert, der auf einer lächerlichen Liste von Versprechen beruhte, die jeglicher Grundlage entbehrten.
Die Wählerregister wurden offensichtlich auf ein Maximum ausgedehnt. Verglichen mit den letzten Bevölkerungszahlen, sind Kinder und junge Leute eine absolute Minderheit in Serbien – eine richtige Rarität. Diese demographische Anomalität scheint keine der politischen Parteien beunruhigt zu haben. In früheren Zeiten war die Zahl der abgegebenen Stimmen wichtig, weil es nichts zu wählen gab auf Listen mit Einheitskandidaten. Bei diesen Wahlen war es wichtig, zu wählen, aber wie viele Wähler ihrer Wahlpflicht nachkamen, schien unbedeutend. Da es in Serbien kein Bewusstsein dafür gibt, wie wichtig ein gut geführtes Staatswesen ist, gibt es auch kein Bewusstsein für die Bedeutung korrekt erstellter Wählerlisten und ihre Funktion in der Struktur eines demokratischen Staates.

Kleine Rückschau

Die vorherige Zeitspanne des politischen Lebens in Serbien bestimmten die Alternativen, die den Wählern geboten wurden. Nach dem Ende der Ära Miloševiæ (Sozialistische Partei) im Jahr 2000 und dessen Auslieferung, ermordeten im März 2003 Mitglieder der staatlichen Todesschwadrone den legitimen Premier-Minister Ivica Dašiæ (Demokratische Partei). Eine zähe nationalistische Partei, die Serbische Demokratische Partei, verteidigte das Recht der Einheit, weiterhin Chaos in Belgrad und ganz Serbien zu verbreiten. Einige der Täter sind noch immer nicht bestraft, eine Säuberung wurde nicht durchgeführt. In der Zwischenzeit wurde eine etwas modifizierte politische Gruppe des alten Regimes, die Serbische Sozialistische Partei, wieder zu einem glaubwürdigen Partner und hielt die Mittel der Repression in ihren Händen. So durfte der Wolf die Schafe hüten, und es erstaunt nicht, dass keiner der Auftragsmorde seinen logischen Epilog vor dem Gericht bekam. Mitgliedern des bereits diskreditierten Regimes wurde erlaubt, die Zügel eines völlig repressiven Systems in den Händen zu halten, ein sicherer Weg für die alte Partei, sich zu revitalisieren. Die Demokratische Partei war durch den Verlust einer zentralen Person beschädigt und ließ sich von den Ratschlägen alter und neuer grauer Eminenzen beeinflussen. Sie hätte vorhersehen können, dass der Zahltag nahen würde.
Eine andere, kleine, politische Gruppe mit primären Interessen im Finanzsektor (G17 plus) gab sich selbst die Rolle der Ziege, die auf den Finanz-Kohl aufpassen muss. Nachdem sie sich mit dem Kohl vollgestopft hatte, gelang es ihr, sich vor deren Sturz aus der Regierung zurück zu ziehen. Dann hat sie die Wählerschaft mit der Behauptung aufgeheitert, dass sie große ausländische Finanzinteressen nach Serbien gebracht habe, als wären sie ein Bär an der Kette, und dies habe nichts mit der Regierung zu tun.
Zwei der teilnehmenden Parteien machten die Wahlkampagne ungewöhnlich und pittoresk. Die Liberaldemokratische Partei (LDP) nahm Vuk Draškovi ć, Initiator der Tschetnik-Renaissance, nun aber eine verbrauchte politische Kraft, begeistert auf und schreckte damit eine kleine Zahl von Wählern ab, die sich noch etwas Glauben an Liberalismus und Demokratie bewahrt hatten. Die negativen Auswirkungen auf die LDP wurden durch das Eintreten einiger prominenter Persönlichkeiten für die Partei bei Fernsehdebatten nicht gemildert.
Der Gründer der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) Tomislav Nikoli ć nahm einen anderen Weg als der LDP-Vorsitzende Cedo Jovanovi ć. Nikoli ć vergaß bequemerweise die „guten alten Tage“ seiner Kooperation mit Miloševi ć, als er der stellvertretende Ministerpräsident seines früheren Bosses war und sein derzeit engster Mitarbeiter Informationsminister. Er hat sich in letzter Zeit nicht mehr damit gebrüstet, am Slawonien-Krieg teilgenommen zu haben, und auch nicht damit, dass er den Titel „Tschetnik-Voyvoda“ (Tschetnik-Führer) trägt. Er verleugnete seinen ehemaligen Führer und verräumte das T-Shirt mit dem Portrait von Šešelj, mit dem er im Serbischen und im Europäischen Parlament aufgetreten war. Er wusch dieses T-Shirt in Europa und den USA rein, aber es ist zu bezweifeln, dass er es fleckenlos sauber gekriegt hat. Es ist nicht klar, was er nun als Staatsoberhaupt tun wird, wenn er weiterhin nicht nach Kroatien einreisen darf, dem Nachbarland und natürlichen Wirtschaftspartner.
Es wäre interessant zu erfahren, ob Nikoli ć die russische Nationalhymne als Klingelton auf seinem Handy ausgetauscht hat. Er hat seine Weste umgedreht und seine eigene Partei gegründet, die diejenigen anzog, welche genug hatten vom Warten und vom müßigen Gerede darüber, wer eingesperrt wird, wenn sie an die Macht kommen, etwas das ihnen früher entging. Mit harter Arbeit gelang es ihm die parlamentarische Mehrheit für seine SNS zu gewinnen, auch wenn er sich zuerst über manipulierte Wahlen beschwerte. Jeder, der nicht vollständig hypnotisiert ist, würde fragen: „Wer fälschte die Wahlen?“ Aber in Serbien stellt niemand so eine Frage – Serbien ist immer noch zu weit von Demokratie entfernt, als dass Wahlfälschung überhaupt als Problem angesehen würde.

Eine autoritäre Tradition

In unserem Land wird das parteipolitische Leben seit langer Zeit vom Führer-Prinzip beherrscht, das heißt, politische Parteien werden nur durch ihre Führer wahrgenommen. Die Führung der radikalen Rechten, die früher Vojislav Šešelj innehatte, ist verwaist, nachdem Nikolic die radikale Rechte verlassen hat. Das ist das gute Ergebnis der politischen Entwicklungen in den letzten Jahren, die nun in diese Wahlen mündeten.
Ein autoritärer Regierungsstil ist in der Geschichte Serbiens tief verwurzelt. Ermutigend ist nun, dass Nikoli ć, ein verbrauchter Politiker, diesen Pyrrhussieg errungen hat. Ich nehme an, er wird nicht viel Schaden anrichten, aber umgekehrt, wird er den serbischen Bürgern auch nichts Gutes bringen. Sicherlich steht er Herausforderungen gegenüber, die ihn überfordern. Von der Tatsache abgesehen, dass er Staatspräsident wurde, hat er wenig Grund zum Jubeln. Seine Gefolgsleute, die nach Macht, Geld und Ruhm dürsten, werden ihm ein Klotz am Bein sein und alle seine Intentionen, etwas Nützliches zu tun, zu Nichte machen. Seine negative Gemütsverfassung hat ihn lange deprimiert, und er ist unfähig, mit Menschen anderer Überzeugungen zu kommunizieren. So wird er das Kapital seines Sieges bald verschleudern. In einer Gesellschaft mit einer langen Geschichte autoritärer Traditionen, hat Nikoli ć weder die Autorität noch die notwendigen Fähigkeiten um sich als Führer Respekt zu verschaffen – wenn man denn meint, Serbien brauche einen Führer. Er ist zu sehr niedergedrückt von der Last, die er während seiner ziellosen politischen Wanderung akkumuliert hat, um noch irgendwelche ernsthafte politische Aktion in die Wege zu leiten. Er kann kein positives Ergebnis erzielen, auch nicht durch die Erneuerung der Zweckehe im Miloševi ć-Stil zwischen seinen Konservativen, die sich als Liberale ausgeben, und den nationalistischen Sozialisten, die alle Privilegien der Regierungsmacht genießen und ihre Rolle in der Balkan-Tragödie vergessen wollen.
Wie schockierend serbische Bürger und einige europäische Analysten den Aufstieg des stellvertretenden Ministerpräsidenten von Miloševi ć auch finden mögen, man sollte kein europäisches Szenario im Stil von 1930 erwarten. Auch wenn Nikoli ć einmal der Verwalter eines Friedhofs in Kragujevac war, wird er Serbien nicht in einen solchen verwandeln. Die historischen Umstände haben sich so weitgehend verändert, dass er während seiner Amtszeit nur Dinge erreichen wird, die er nicht geplant hat und von denen, die er erreichen möchte, nur träumen wird. Seine Wahl wird die großen europäischen Länder nicht übermäßig beunruhigen. Für sie ist Serbien ein zweitklassiges, wenn nicht ein drittklassiges Problem. Es ist genug, wenn Serbien keine neuen Konflikte in der Region verursacht und kein Blut vergießt. Vielleicht hat irgendjemand Nikoli ć das alles schon unterbreitet, und der wird genug politische Erfahrung haben, um den Rat ernst zu nehmen.
Während Nikoli ć aufpassen sollte, sich seines Sieges zu rühmen, hat Boris Tadic keinen Grund, seine Niederlage zu beklagen. Er hat das Amt des Staatspräsidenten acht Jahre lang ausgefüllt und die Niederlage bewahrt ihn vor einer einfachen Analogie mit Putin. Hätte es mehr politische Vorstellungskraft in seiner Partei gegeben, wäre ein anderer Kandidat gefunden worden. Aber das Problem war von Anfang an da. Gleich zu Beginn verlor Tadi ć die Leitung in seiner Kampagne, belastet wie er war mit Intrigen, in die zu viele Seiten verwickelt waren. Außerdem litt er unter der Autorität seines biologischen Vaters (Ljubomir Tadi ć) und dem „Vater der Nation“ (Dobrica Cosi ć), die ihm beide zweifelhafte Berater aufhalsten und ihn in die konservative Richtung drängten. Seine Propagandisten haben ihm nicht geholfen. Sie scheinen politische Aufgaben mit dem Jubeln bei einem Basketballspiel oder einem Rock-Konzert zu verwechseln. Das wurde besonders deutlich während seiner katastrophalen Wahlkampagne. Seine Gefolgsleute verwickelten ihn in Dinge, die er sich hätte sparen können, und lenkten ihn ab von Aktionen, die sein Profil verbessert hätten. Während seiner Amtszeit waren ziemlich viele seiner Mitarbeiter zu ungeduldig, ihre Regierungspositionen für private Zwecke auszunutzen. Ein junger Emporkömmling, zum Beispiel, der serbischen Interessen mehrmals geschadet hat, muss nun unbedingt Präsident der UNO-Generalversammlung werden. Das ruft negative Reaktionen in der EU hervor, die Serbien eigentlich wohl gesonnen ist.

Die Lehre aus der Geschichte

Für einige seiner Mitarbeiter war Tadi ć zu bescheiden und zu konziliant und dies – neben anderen Umständen – schadete seinem zweifellos aufrichtigen Wunsch der Präsident aller serbischen Bürger zu sein. Proteste von Arbeitern, deren Arbeitsplätze im Verlauf der Privatisierungen abgebaut worden waren und die Stimmen weiser Leute wie Verica Barac, die Vorsitzende des Rates zur Bekämpfung der Korruption, konnten die Wände seines Kabinettsbüros nicht durchdringen. Die Abhängigkeit seiner Partei vom großen Geld machte ihn sehr verletzbar. In seiner ‚Philosophie der Weltgeschichte‘ bemerkte Hegel, die Erfahrung habe uns gelehrt, dass Nationen und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt haben. Hegel zum Trotz wäre es gut, wenn Tadic einige Lektionen aus der Erfahrung seiner Niederlage ziehen würde. Weder ist diese Niederlage endgültig, noch ist Nikoli ć’s Sieg ewig. Die Ergebnisse der Wahlen sind nun bekannt, aber ob sie erhofft oder erwartet wurden, ist eine andere Frage. Die allgemeine Wirtschaftskrise und die Unfähigkeit der serbischen Eliten, darauf vernünftige Antworten zu finden, haben diese Ergebnisse hervorgebracht. Die Sieger haben keinen Grund sich zu freuen und die Besiegten keinen Grund sich zu bedauern. Auch die Wähler haben ganz sicher nichts zu feiern. Sie haben nicht für „Schrecken ohne Ende“ gestimmt, wie manche es kommentiert haben. Im Gegenteil, sie werden damit weitermachen, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, ums Überleben zu kämpfen, während geistlose Analytiker im Fernsehen, im Radio und in der Tagespresse mit ihrer Gehirnwäsche fortfahren. Bis zu den nächsten Wahlen, das ist alles.