EISZEIT: Widerstände gegen das EU-Grenzregime

von Bernard Schmid, Jurist, MRAP*, Frankreich, 25.03.2013, Veröffentlicht in Archipel 212

Dass Menschen wandern und weit von ihrem Geburtsort entfernt ihr Glück suchen – das ist so alt wie die Menschheit selbst. Und zwar buchstäblich. Während der ersten Eiszeit vor rund einer Million Jahren wanderten die Vorfahren des modernen Homo sapiens vom östlichen Afrika aus in Richtung Asien und Europa. Dies war möglich geworden, weil während der Vereisung der Meerspiegel um rund 100 Meter gesunken war.

Es soll uns also niemand erzählen, es handle sich ausschließlich um eine moderne Erscheinung, die etwa darauf zurückzuführen sei, dass übertriebene Sozialsysteme in den reicheren Ländern Menschen anderswo unsinnige Glücksvorstellungen vorgaukeln (so die rechte Variante). Oder nur darauf, dass es einen zeitgenössischen Kapitalismus gebe, ohne den keine «Menschenmassen» zu Arbeitsplätzen sich «wälzen» würden (so die mal irgendwie «links», mal rechts vorgetragene Variante). Nichts davon ist wahr.
Und dennoch entsteht heute etwas Neues. Denn die Menschheitsgeschichte bleibt nicht stehen, und Wanderungsbewegungen tragen dazu bei, dass neue Facetten menschlichen Zusammenlebens auftauchen.
Den Eindruck, dass etwas Neues entsteht, konnte man in jener Nacht im Juli 2012 in Athen haben. Es ist bereits gegen zwei Uhr morgens, als das «Antirassistische Festival» zu Ende geht, das in diesem großen Park stattgefunden hat, dessen Eigentümer – unerwartet für den auswärtigen Besucher – die Armee ist. Die Konzertbühnen (auf denen sich kurdische Gesangsgruppen oder griechische Opernsängerinnen produzierten) haben sich geleert, die Schlangen an den Essständen gehen zu Ende. Große Teile des Parks beginnen sich zu leeren, nur im vorderen Teil sitzen Leute an langen Tischen und diskutieren noch ewig. Tief drinnen im Park aber pulsiert das Leben, afrikanische Migranten haben ihre Trommeln ausgepackt. Die Flüchtlinge aus Afghanistan, die, wie so viele, über Griechenland in die EU einzureisen versuchen, sind zahlreich unter den Umstehenden. Sie fangen an, ihre T-Shirts auszuziehen und zu afrikanischen Rhythmen zu tanzen, während die Afrikaner immer schneller auf ihre Trommelfelle schlagen. Die Afghanen schlagen eigene Takte vor. Dazwischen junge Griechinnen, Besucher aus Paris und anderswo, Hochschullehrer und Buchverleger. Kein Veranstalter von Kulturevents könnte sich eine solche Performance ausdenken.

Stoppschild an den Außengrenzen

Nicht alle Menschen im alternden, um seinen (relativen oder absoluten) Reichtum bangenden Europa können sich für solche Vorboten eines neuen Abschnitts in der Menschheitsgeschichte begeistern. Einigen treibt es die Angst in den Rücken, und sie ziehen sich furchtsam hinter ihre Grenzzäune und hinter die Fernseher in ihren Eigenheimen zurück. Andere gehen hin und verfechten ganz offensiv die Idee, dass es «so nicht geht». Als die tunesische Polizeistaatsdiktatur unter General-Präsident Zine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 stürzte und die für ihre Brutalität bekannte Polizei sich für kurze Zeit in ihre Schlupfwinkel zurückzog, kam für wenige Wochen ein Außenposten des europäischen Grenzregimes ins Wanken. Rund 35 000 meist junge Tunesier schafften es bis im April 2011, nach Italien und von dort aus beispielsweise nach Frankreich zu gelangen. «Eine Katastrophe», eiferten dort viele Politikerinnen und Politiker. Einige gingen das «Problem» ganz offensiv an: Die rechtsextreme Parteivorsitzende Marine Le Pen (Front National) packte ihren Koffer, flog am 14. März 2011 auf die Insel Lampedusa, wo die Auswanderer meist ankommen – an der Seite des italienischen Europaparlamentariers Mario Borghezio (Lega Nord) – und baute sich vor den jungen Emigranten auf. Nein, nein, sie empfinde keinen Hass und keine Angst, sagte sie zu den Tunesier_innen. Auch sie habe «ein Herz». Aber sie müssten doch einsehen, dass sie den Leuten verwehren müsse, einfach so nach Europa einzureisen: «Wenn ich in einem Boot sitze und Sie mit einsteigen wollen, dann kann ich Mitgefühl für Sie empfinden – aber bevor wir beide untergehen, fordere ich Sie zum Aussteigen auf.»
Diese laut eigener Auffassung harte-aber-herzhafte Art, im direkten Umgang (in Wirklichkeit aber vor allem an die zahlreich mitreisenden Fernsehkameras gerichtet) den Menschen das Stoppschild an den Außengrenzen der EU zu zeigen, ist nicht jedermanns und jederfraus Sache. Die meisten Politikmachenden ziehen es vor, über anonyme Apparate zu agieren: über das «Schengen-Informationssystem», etwa um zu wissen, wer als unerwünscht eingespeichert ist, oder über die EU-Grenzschutzagentur Frontex, eine für die Bewachung und den Schutz der Außengrenzen zuständige EU-Behörde mit zentralem Sitz in Warschau. Zum Teil gewolltes und zum Teil ungewolltes, aber objektives Ergebnis all dieser Bemühungen ist es, dass Menschen immer stärker ihr Leben gefährden, um – auf oft brüchigen Booten über das Mittelmeer schippernd, bei starker Strömung durch den Grenzfluss Evros zwischen der Türkei und Griechenland schwimmend, oder unter Beschuss durch marokkanische und/oder spanische Polizisten an den Grenzzäunen rund um die Enklaven Ceuta & Melilla rüttelnd – in die Festung EU zu gelangen.

Strategien gegen das EU-Grenzregime

Dagegen rühren sich diverse Widerstände in unterschiedlichen Ecken dieses Kontinents und dieser Welt. Aus vierzehn Staaten kamen sie, die rund sechzig Aktivistinnen und Aktivisten, die im März 2012 in Istanbul zusammentrafen, um über Strategien gegenüber dem repressiven EU-Grenzregime zu beraten. Sie kamen aus Bamako, der Hauptstadt des westafrikanischen Mali (wo seit mehreren Jahren die Association Malienne des expulsés – die Malische Vereinigung für die Abgeschobenen – eine wertvolle Arbeit für die Aufnahme der auf erzwungene Weise in ihr Herkunftsland «Zurückgeschafften» aufgenommen hat). Sie kamen aus Tanger in Marokko – in Sichtweite des europäischen Kontinents gelegen – oder aus Kopenhagen. Oder aus Uschgorod im Westen der Ukraine, unweit der slowakischen Grenze, welche seit 2004 zur neuen EU-Außengrenze geworden ist. Sie vereinbarten gemeinsame Absprachen, verbesserten Informationsaustausch und eine Kommunikation über die Folgen des EU-Grenzregimes für die betroffenen Menschen. Und sie erstellten zusammen eine Karte, die (zwischendurch an verschiedenen Orten, in Deutschland etwa durch die Zeitschrift ak) veröffentlichte Transborder Map 2012, auf welcher die «Reibungspunkte» des Grenzregimes aufgezeichnet sind.

Widerstandsbewegungen

Auch innerhalb der EU bestehen seit Jahren bekannte und unbekannte Kämpfe, Widerstandsbewegungen zum Teil mit Erfolg. Eine der länderübergreifend bekannteren Bewegung ist jene der Sans papiers (d.h. undokumentierte Einwander_innen ohne Aufenthaltstitel) in Frankreich, die in ihrer heutigen Form am 18. März 1996 mit Kirchenbesetzungen in Paris begann. Damals konnte sie sich schnell auf eine fast überraschend breite Bewegung stützen: Führende französische Gewerkschaften wie die CGT (der noch heute stärkste französische Gewerkschaftsdachverband, bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit der französischen kommunistischen Partei verbunden, heute etwas orientierungslos), vollzogen in diesem Kontext im Laufe des Frühjahrs 1996 einen Positionswechsel. Hatte die CGT bis dahin seit der «Ölkrise» von 1973/94 permanent einen «Stopp der Zuwanderung» gefordert, um «lohndrückerische Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt» zu verhindern, warf sie diese Position nun zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren über Bord. Angesichts der immer weiter aufklaffenden internationalen Ungleichheiten, und weil man unmöglich das gesamte Land mit Stacheldraht umzäunen kann, sei es schlicht unrealistisch, Migration verhindern zu wollen. Besser sei es deswegen, um die vielbeschworene Dumpingkonkurrenz um Arbeitsplätze zu verhindern, für gleiche Rechte aller Arbeitenden – ob französischer oder migrantischer Herkunft, in «legaler» oder «illegaler» Aufenthaltssituation aus Sicht des Staates – zu kämpfen.
Dies waren in Teilen der französischen Gewerkschaftsbewegung neue Töne. Abgeschwächt wurde die Unterstützungsfront für die Sans papiers-Kämpfe erst durch den Antritt der damaligen sozialdemokratischen Regierung der Jahre 1997 bis 2002, da diese – statt der geforderten «kollektiven Legalisierung» der in Frankreich lebenden Einwanderer_innen, aber auch statt der bis dahin durch die Rechtsregierung praktizierten, fast pauschalen Ablehnungspolitik – «Einzelfallprüfungen» und «konditionierte Legalisierungen nach einem Kriterienkatalog» einführte. Ein Teil der UnterstützerInnen postulierte, dies sei besser als nichts (was aus Sicht der betroffenen Menschen im Falle der Erreichung eines Aufenthaltsstatus zutraf, aber als politische Position nicht haltbar war), während andere auf einer kollektiven Forderung für alle Betroffenen beharrten, dabei aber zunehmend isoliert wurden. Auch heute ist die Situation wieder ähnlich. In den letzten Jahren haben auch rechte französische Regierungen mehrfach sehr begrenzte «Legalisierungsoperationen» durchgeführt. Die neueste «Legalisierungskampagne» nach einem (jedenfalls gegenüber früheren sozialdemokratischen Regierungen ziemlich restriktiven) Kriterienkatalog begann am 3. Dezember 2012.
Dennoch ist die Bewegung rund um die Sans papiers in Frankreich nicht eingeschlafen, heute jedoch, was die soziale und politische Unterstützung durch die Gesellschaft betrifft, erheblich schwächer als während ihrer Hochphase in den Jahren 1996 und 1997. Durch Streikbewegungen (zwei massive Streikwellen «undokumentierter» Lohnabhängiger fanden 2008 und 2009 statt), Besetzungen wie jüngst die des Büros von Innenminister Manuels Valls oder andere Happeningaktionen werden die für ihre Rechte kämpfenden Einwande-rer_innen im Gedächtnis der Öffentlichkeit bleiben. Und ihre Kollektive erreichen, wenn sie punktuell genügend Druck ausüben, immer wieder auch «Legalisierungs»-Versprechen für eine bestimmte Anzahl von Menschen. Unterdessen haben die Sans papiers immer stärker begonnen, sich auch international zu vernetzen. Vom 2. Juni bis zum 2. Juli 2012 marschierten sie zu Fuß durch sieben Länder Europas und überquerten dabei fünfzehn Grenzen. Überall wurden sie durch örtliche Unterstützer_innengruppen aufgenommen, warben für ihre Anliegen und schafften es, dass die lokale Presse von ihnen sprach. Den Auftakt machten sie in Paris, den ersten Zwischenstopp legten sie in Hénin-Beaumont in Nordostfrankreich ein – im Wahlkreis von Marine Le Pen, wo sie nach ihrer Ankunft zusammen mit 6 000 Menschen demonstrierten. Nach Aufenthalten in Belgien, in den Niederlanden, erneut in Belgien – und zwar symbolträchtig in Schengen, wo 1985 der erste Vertrag über eine gemeinsame Kontrolle der Außengrenzen mehrerer europäischen Staaten unterzeichnet wurde –, Süddeutschland, der Schweiz und in Italien kamen die Marschierer_innen Anfang Juli am Rhein an. Mit einem Demonstrationszug über die Rheinbrücke zwischen dem deutschen Kehl und dem französischen Strasbourg beendeten sie ihren einmonatigen Marsch.

Grenzübergreifende Koordination

Inzwischen sind die Aktivitäten solcher Gruppen aber auch grenzübergreifend koordiniert. Denn es ist zu einem wichtigen Thema der Proteste geworden, was eigentlich mit den zuvor geleisteten Sozialabgaben – etwa Beiträgen zu Kranken-, Arbeitlosen- und Rentenversicherung – und Steuern von aufgegriffenen und abgeschobenen «illegalen» Arbeitskräften geschieht. Die Menschen können ja, einmal abgeschoben, in aller Regel keine Gegenleistungen dafür in Anspruch nehmen. Bislang «verfielen» diese Summen bzw. wurden von den französischen Sozialsystemen einfach einbehalten: Pech für die Betroffenen! Doch seit etwa drei Jahren richtet sich eine zielgerichtete, systematische Kampagne gegen diesen «Diebstahl von Beitragszahlungen». Sie findet mit Unterstützung u.a. von mehreren Gewerkschaften der Beschäftigten französischer Finanzämter statt. Zusammen mit zuvor Abgeschobenen, die etwa in Mali mit der (oben erwähnten) AME zusammenarbeiten, werden Musterklagen vorbereitet. Zugleich fanden, unter dem Druck der an der Kampagne teilnehmenden Gewerkschaften und/oder infolge von Besetzungen etwa von Gebäuden der Sozialversicherungskassen, Gespräche und Verhandlungsrunden mit den zuständigen Pariser Ministerien statt. Anscheinend ist man dort sogar bereit, über eine Form von Entschädigungsregelungen nachzudenken. Gleichzeitig hebt eine solche Kampagne vielen Menschen die schlichte Tatsache ins Gedächtnis, dass die Betroffenen oftmals viel mehr ins System einzahlen, als dass sie von ihm «profitieren».
Ein wichtiger Aspekt ist die internationale Koordination mit Menschen in den Staaten, die Ausreiseländer – wie Mali – oder Zwischenstationen bei der Migration darstellen. Dazu gehören für Menschen, die etwa aus Afghanistan, Iran oder Irak sowie Syrien fliehen, Länder wie Griechenland, aber auch Serbien. Dort fand am 6. und 7. Oktober 2012 ein Festival gegen das EU-Grenzregime statt (die Außengrenze der Union verläuft an der Nordseite Serbiens in Richtung Ungarn), welches von antiautoritären Kreisen organisiert worden war. Besonders wichtige «Stationsländer» sind aber auch die Staaten Nordafrikas, die früher selbst überwiegend Auswanderungsländer waren und inzwi-schen selbst zum Teil zu Durchgangs-, zum Teil auch zu Einwanderungsländern für Menschen aus dem subsaharischen Afrika wurden.
Im Maghreb wächst inzwischen ebenfalls die Diskussions- und Kritikbereitschaft in den Gesellschaften, was den Umgang der jeweiligen Staaten – ihrerseits unter massivem Druck seitens der Europäischen Union stehend – mit den Migrant_innen betrifft. Anlässlich von Foren am 13. Juli 2012 im tunesischen Monastir1 oder am 6. und 7. Oktober 2012 im marokkanischen Oujda2 wurde die Migrationspolitik in diesem Zusammenhang ausführlich thematisiert. Eine erneute Gelegenheit dazu wird das Weltsozialforum von Ende März 2013 in Tunis bilden, das erstmals in einem arabischsprachigen Land stattfindet, inmitten des Kontextes vom «Arabischen Frühling» und dem Ringen um Grenzregimes und Rechte der Migrant_innen auf beiden Seiten des Mittelmeers.

* Bewegung gegen Rassismus und für die Freundschaft zwischen den Völkern

  1. Vgl. dazu vom Verf. dieser Zeilen: www.edition-assemblage.de/widerstand-gegen-den-umgang-mit-migrantinnen-und-migranten/ (Anm.: Das Weltsozialforum, das hier noch für den 23. bis 28. März 2013 angekündigt wird, ist inzwischen um wenige Tage verschoben und auf den 26. bis 30. März angesetzt worden.)
  2. Vgl. dazu www.trend.infopartisan.net/trd1012/t311012.html und www.trend.infopartisan.net/trd1112/t111112.html .