Gegenseitige Ermutigung

von Teilnehmer·innen des Transborder Summer Camps, 01.09.2019, Veröffentlicht in Archipel 284

«Für Korridore der Solidarität gegen die Achse der Schande!» war ein wichtiges Motto bei dem gelungenen Austausch zwischen verschiedensten Aktivist·inn·en auf dem Transborder Summer Camp in Frankreich in der Nähe von Nantes.

Über 500 Aktivist·inn·en aus ganz Europa sowie aus Nord- und Westafrika kamen im Juli 2019 beim Transborder Summer Camp in der Nähe von Nantes in Frankreich zusammen. Das Netzwerk Welcome to Europe hatte das fünftägige Treffen initiiert und dazu insbesondere alle praktisch arbeitenden Gruppen und Projekte entlang der unterschiedlichen Fluchtrouten eingeladen. Das Watch The Med Alarm Phone war mit Delegierten aus über 20 Städten beteiligt. Das Camp begann mit einer «Noborder-Messe», bei der an vielfältigen Info-Tischen die unterschiedlichen Gruppen und Netzwerke ins Gespräch kamen: Aktivist·inn·en von der Balkanroute trafen auf Mitglieder von Afrique-Europe-Interact, Top-Manta-Freundinnen und Freunde aus Barcelona teilten ihre Erfahrungen mit Aktiven aus Izmir oder Helsinki, «Grenzgänger·innen» aus Südfrankreich tauschten sich mit We‘ll Come United aus. Bereits an diesem ersten Tag entwickelte sich eine grossartige Atmosphäre der gegenseitigen Ermutigung, die auch in den folgenden drei Tagen die Stimmung in den Workshops, in den Versammlungen und nicht zuletzt bei Musik, Theater und Tanz an den Abenden prägte. Im Mittelpunkt vieler Diskussionen standen praktische Erfahrungen und Fragen zum Auf- und Ausbau der Infrastruktur für Bewegungsfreiheit und für gleiche Rechte für Alle. «Korridore der Solidarität» rangierte nicht zufällig ganz oben im Programm. Der gut besuchte Workshop zu diesem Thema teilte sich in drei Untergruppen: zum einen zur Erstellung von mehrsprachigem und grenzüberschreitendem Informationsmaterial sowie zu gedruckten Leitfäden und Online-Guides in Transit- und Zielländern; eine zweite zu Schutz- und Unterstützungsräumen wie Rasthäusern, (besetzten) sozialen Zentren oder Beratungscafés; eine dritte zu diversen Hotline- und Alarm-Phone-Projekten entlang der Flucht- und Migrationsrouten.

Flexibel bleiben

Beispielhaft folgt eine kurze Zusammenfassung des letztgenannten Workshops, an dem sich neben dem Watch The Med Alarm Phone vier weitere Hotline-Projekte beteiligten: das im Aufbau befindliche Alarm Phone Sahara, eine Hotline gegen Push-Backs in Slowenien, ein Telefonprojekt an der alpinen Grenze zwischen Italien und Frankreich sowie ein Notruftelefon gegen Abschiebungen in Frankfurt. Zwar sind die Rahmenbedingungen und Erfordernisse bei allen fünf Projekten sehr unterschiedlich, doch beim Austausch über die jeweiligen Problemstellungen gab es auch interessante Gemeinsamkeiten. Wie verändern sich die jeweiligen Situationen und wie können wir flexibel bleiben? Mit wem auf staatlicher oder institutioneller Seite können oder müssen wir zusammenarbeiten? Wie verbreiten wir unsere Telefonnummer? Wie organisieren wir unseren Schichtbetrieb? Wie gehen wir mit Sprachbarrieren und Übersetzungen um? Und nicht zuletzt: was tun gegen zunehmende Kriminalisierung? Wir wissen alle, dass staatliche Repressionen politischen und medialen Konjunkturen folgen und dabei – wenn nötig – völlig willkürliche sogenannte Straftatbestände konstruieren. Für einen Vorwurf der Beihilfe zu illegaler Einreise oder illegalem Aufenthalt reicht es theoretisch bei jedem Projekt, das Geflüchtete oder Migrant·inn·en im Transit unterstützt. Wir sind also alle potentielle «Solidaritätsverbrecher·innen». Entsprechend stellt sich überall die Frage, wie öffentlich und offensiv wir unsere Netzwerke darstellen und was insbesondere zu Gunsten der Betroffenen besser unsichtbar bleiben sollte. Das Watch The Med Alarm Phone hatte im Diskussionskreis die kontinuierlichste Geschichte und ist mit vielen Gruppen und Teams in vielen Städten aktiv. Die transnationale sowie bewusst dezentral angelegte Struktur dürfte es den Verfolgungsbehörden nicht einfach machen, dieses Hotline-Projekt von heute auf morgen lahmzulegen. Zumal das Alarm Phone die Hydra zum Vorbild einer präventiven Anti-Kriminalisierungsstrategie erkoren hat: Wenn ein Kopf abgeschlagen wird, sollen zwei andere nachwachsen. Jedenfalls wird sich um eine Netzwerkstruktur bemüht, in der sich die Gruppen in ihren Funktionen gegenseitig ersetzen können.

Der Maulwurf als Symbol

Mitten im Abschlussplenum im grossen Zelt des Transborder Summer Camps warf ein unerschrockener Maulwurf seinen Hügel direkt neben der Moderatorin auf. Einige der belustigten Teil-nehmer·innen assoziierten das Tier mit einer möglichen Überwachung des Treffens durch Geheimdienste. Eine nettere Alternative lag nach den vielen gelungenen Diskussionen der Vortage auf der Hand: der Maulwurf als Symbol und Aufforderung, weiterzuwirken beim alltäglichen Auf- und Ausbau der Underground Railroad 1 für und mit den Flucht- und Migrationsbewegungen. Das transnationale Zusammenkommen bei Nantes hat viele begeistert, weil es vor allem auf praktischer Ebene inspiriert und gegenseitigen Mut gemacht hat. Es dürfte insofern als Highlight in die Geschichte von mittlerweile über 20 Jahren Noborder-Camps eingehen.

  1. Die Underground Railroad (englisch für Untergrund-Eisenbahn) war ein aus Gegner·inne·n der Sklaverei – auch Weissen – bestehendes informelles Netzwerk, das Sklav·inn·en auf der Flucht aus den Südstaaten der USA nach Norden, z.B. in das sicherere Kanada, Unterstützung gewährte. Mit geheimen Routen, Schutzhäusern, Fluchthelfer·inne·n und geheimer Kommunikation gelang es, zwischen 1810 und 1850 etwa 100‘000 Sklav·inn·en zu befreien.