GESTERN - HEUTE - MORGEN: Piratenutopien

von Do or die*, 21.03.2011, Veröffentlicht in Archipel 188

Während des «goldenen Zeitalters» der Piraterie im 17. und 18. Jahrhundert plünderten die ersten proletarischen Rebellen, Ausgeschlossene der Zivilisation, die Schifffahrtsrouten zwischen Europa und Amerika. Auf Landenklaven und in Freihäfen, die sich auf Inseln oder entlang der Küsten außerhalb der Reichweite der Zivilisation befanden, entstanden auf diese Weise «Piratenutopien», 2. Teil.

Die große Mehrheit der Piraten waren Seeleute, die zu den Piraten übergetreten waren, als ihre Schiffe gekapert wurden. Es gab auch eine kleine Anzahl Meuterer, die ihr Schiff gemeinsam beschlagnahmt hatten.
Laut Patrick Pringle’s Jolly Roger, war «die Rekrutierung von Piraten am erfolgreichsten unter den Arbeitslosen, geflüchteten Leibeigenen und verschleppten Kriminellen. Die hohe See sorgte für eine sofortige Nivellierung der Ungleichheiten zwischen den Klassen.» Viele Piraten hatten ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein, so hielt zum Beispiel ein Pirat namens Captain Bellamy eine Rede vor dem Kapitän eines Handelsschiffes, das er gerade gekapert hatte. Der Kapitän des Handelsschiffes hatte die Einladung der Besatzung abgelehnt, sich den Piraten anzuschließen: «Ich bedauere, Sie können ihre Schaluppe nicht zurück bekommen, doch ich lasse mich nicht dazu herab, irgendjemandem Unrecht zuzufügen, wenn das nicht zu meinem Vorteil ist. Verdammt sei die Schaluppe, wir müssen sie versenken, sie könnte Ihnen doch nützlich sein! Seien auch Sie verdammt, Sie sind ein Duckmäuser, so wie alle anderen auch, die sich demütig den Gesetzen beugen, die reiche Männer für ihre eigene Sicherheit gemacht haben. Die feigen Jammerlappen haben nicht den Mut, mehr zu verteidigen als das, was sie durch Betrügerei ergattert haben; verdammt seien sie alle, diese listigen Gauner, und Ihr, die Ihr ihnen dient, seid nichts als eine Bande von Angsthasen. Sie verteufeln uns, doch es gibt nur einen Unterschied zwischen ihnen und uns: Sie berauben die Armen unter dem Deckmantel der Gesetze, und wir bestehlen die Reichen unter dem Schutz unseres Mutes. Wären Sie nicht besser einer von uns, als diesen Schurken die Stiefel zu lecken, um Arbeit zu bekommen?»
Als der Kapitän antwortete, sein Gewissen lasse es nicht zu, dass er die Gesetze Gottes und der Menschen breche, erwiderte der Pirat Bellamy:
«Ihr seid das Gewissen des Bösen, verdammt sollt Ihr sein, Ihr Nichtsnutz, ich bin ein freier Fürst, und ich habe so viel Autorität, der ganzen Welt den Krieg zu erklären, wie der, der hundert Segelschiffe und eine Armee von 100.000 Mann hat. Das sagt mir mein Gewissen! Doch es gibt keine Diskussion mit Jammerlappen, die es ihren Oberen zugestehen, sie ganz nach deren Belieben in den Hintern zu treten.»1
In einem der ersten Zyklen des Klassenkampfes war Freibeuterei eine Strategie im Atlantik. Seeleute benutzten auch Meuterei und Fahnenflucht sowie andere Taktiken, um zu überleben und Widerstand zu leisten. Piraten waren vielleicht der internationalste und militanteste Teil des Vor-Proletariats, zusammengesetzt aus Seeleuten des 17. und 18. Jahrhunderts. Es gab darunter einige berühmte Aufwiegler wie Edward Buckmaster, ein Seemann, der 1696 der Kidd’s Crew beitrat und einige Male wegen Anstiftung zum Aufruhr festgenommen und ins Gefängnis geworfen worden war, oder Robert Culliford, der das Schiff, auf dem er diente, kaperte und in ein Piratenschiff verwandelte.2
In Kriegszeiten gab es bei der Marine einen großen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, und Seeleute konnten relativ hohe Löhne verlangen. Das Ende der Kriege, insbesondere des Krieges der Königin Anne 1713, machte eine große Zahl von Marine-Matrosen arbeitslos und führte zu einem starken Einbruch der Löhne. 40.000 Mann hatten am Ende des Krieges keine Arbeit und streiften durch die Straßen der Hafenstädte wie Bristol, Portsmouth und New York. In Kriegszeiten genossen die Korsaren eine relative Freiheit und konnten sich schnell bereichern. Das Ende des Krieges bedeutete, dass die ehemaligen Freibeuter den Überschuss an Arbeitskräften noch erhöhte. Der Krieg von Königin Anne dauerte 11 Jahre. 1713 kannten viele Seeleute nur wenig anderes als Kriegsführung und die Plünderung von Schiffen. Häufig wurden die Korsaren am Ende der Kriege zu Piraten. Tausende im Kapern von Schiffen erfahrene Männer, die sich plötzlich ohne Arbeit wiederfanden und immer schlechter bezahlten Dienste annehmen mussten – die Situation war explosiv. Für viele war die Piraterie zweifellos eine der wenigen Alternativen gegenüber dem Verhungern.3

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Der Tyrannei der Disziplin an Bord der Handelsschiffe entronnen, war das Auffälligste an der Organisation von Piratenbesatzungen ihr antiautoritärer Charakter. Jede Mannschaft funktionierte nach den Bedingungen einer Charta, die von der ganzen Mannschaft vereinbart und von den einzelnen Mitgliedern unterschrieben wurde. Die Charta der Mannschaft von Bartholomew Roberts beginnt so: «Jeder Mann hat eine Stimme bei Abstimmungen; bekommt den gleichen Anteil an frischem Essen oder starken Spirituosen, die er jederzeit nehmen und nach Belieben verbrauchen kann, es sei denn, ein Mangel macht es notwendig, für das Wohl aller über eine Kürzung abzustimmen.»4
Euro-amerikanische Piratenbesatzungen bildeten Gemeinschaften mit gemeinsamen Bräuchen, die auf allen Schiffen galten. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gediehen auf der See mehr als hundert Jahre vor der Französischen Revolution. Die Behörden waren oft schockiert über die Freizügigkeit, die bei den Piraten herrschte. Der niederländische Gouverneur von Mauritius traf einmal eine Mannschaft und kommentierte: «Jeder Mann hatte so viel zu sagen wie der Kapitän und jeder Mann trug seine eigenen Waffen.» Dies war zutiefst bedrohlich für die Ordnung der europäischen Gesellschaft, in der Schusswaffen auf die oberen Klassen begrenzt waren. Es stand auch im krassen Gegensatz zu Handelsschiffen, wo alles, was als Waffe hätte verwendet werden können, unter Verschluss gehalten wurde, und zur Marine, wo die Marinesoldaten die Matrosen auf ihren Plätzen hielten.5 Piratenschiffe wurden nach dem Motto «Keine Beute, keine Bezahlung» betrieben, aber wenn ein Schiff gefangen genommen wurde, wurde die Beute nach einem mittelalterlichen System geteilt, das es nicht mehr gab, seitdem die Schifffahrt zu einem kapitalistischen Unternehmen und Matrosen zu Lohnarbeitern geworden waren. Es bestand nur noch bei den Piraten und den Walfängern, aber die Piraten betrieben es in seiner egalitärsten Form - es gab keine Anteile für Eigentümer, Investoren oder Händler, keine aufwendige Hierarchie der Lohndifferenzierung - jeder bekam den gleichen Anteil an der Beute und der Kapitän in der Regel nur den gleichen oder anderthalbfachen Anteil. Das Wrack des Piratenschiffes von Sam Bellamy, die Whydah, die 1984 entdeckt wurde, liefert gute Beweise dafür - unter den Artefakten die geborgen wurden, waren seltene goldene westafrikanische Schmuckstücke, die «mit deutlichen Messerschnitten auseinandergehackt worden waren, die darauf verweisen, dass versucht wurde, sie gleichmäßig zu verteilen.»6
Die Härte des Lebens auf See machte gegenseitige Hilfe zu einer einfachen Überlebensstrategie. Die natürliche Solidarität der Seeleute wurde in die Organisation der Piraten übertragen. Piraten gingen oft Lebensgemeinschaften miteinander ein: Wenn einer starb, bekam der andere seinen Besitz. Piratengesetze enthielten auch häufig eine Form der gegenseitigen Hilfe, durch die verletzte Kameraden, die nicht mehr kämpfen konnten, einen Anteil als Rente bekamen. Piraten nahmen diese Art von Solidarität sehr ernst - zumindest von einer Piratencrew ist bekannt, dass sie ihre Verwundeten ausbezahlte und dann feststellte, dass nichts mehr übrig war. Aus der Charta von Bartholomew Roberts ‚Crew: «Wenn jemand im Dienst eine Gliedmaße verlieren sollte, oder zum Krüppel wird, soll er 800 Dollar aus dem öffentlichen Bestand erhalten, für leichter Verletzte verhältnismäßig weniger.» Und bei George Lowther’s Crew: «Wem das Unglück zustößt, im Dienst eine Gliedmaße zu verlieren, so soll er die Summe von hundertfünfzig Pfund Sterling ausgezahlt bekommen, und so lange bei uns bleiben, wie es ihm passt.»7
Piratenkapitäne wurden gewählt und konnten jederzeit wegen Missbrauchs ihrer Autorität abgewählt werden. Der Kapitän genoss keine Sonderrechte: Er «oder andere Offiziere bekommen nicht mehr [Lebensmittel] als ein anderer, nein, der Kapitän kann seine Kabine nicht für sich allein behalten.»
Kapitäne wurden bezeichnender-weise wegen Feigheit, Grausamkeit und für die Ablehnung, «englische Schiffe zu kapern und zu plündern», abgesetzt - die Piraten hatten dem Staat und seinen Gesetzen den Rücken gekehrt, patriotische Gefühle waren nicht erlaubt. Der Kapitän hatte nur in der Hitze des Gefechts das Recht zu befehlen, alle sonstigen Entscheidungen wurden durch die ganze Schiffsmannschaft abgestimmt. Diese radikale Demokratie war nicht unbedingt sehr effizient; oft segelten Piratenschiffe ziellos umher, bis die Mannschaft eine Entscheidung traf.8
Die ersten Freibeuter hatten sich die «Brüder der Küste» genannt - ein passender Ausdruck, da die Piraten ihre Schiffe tauschten, sich verabredeten und trafen, mit anderen Crews gemeinsame Angriffe durchführten und sich mit alten Schiffskumpels trafen. Obwohl es verwunderlich erscheint, dass über die ganze Weite der Weltmeere die Piraten in Kontakt blieben und sich miteinander trafen, fanden sie sich immer wieder in den verschiedenen «Freihäfen» ein, wo ihnen die Schwarzmarkthändler ihre Güter abkauften. Die Piratenbesatzungen erkannten einander, griffen sich nicht gegenseitig an und arbeiteten oft in großen Flotten zusammen. So trafen sich beispielsweise im Jahre 1695 die Besatzungen der Kapitäne Avery, Faro, Wanna, Maze, Tew und Wake für einen gemeinsamen Angriff auf die muslimische Pilgerflotte nach Mekka. Die sechs Schiffe beförderten mindestens 500 Menschen. Sie trafen sich auch, um gemeinsam zu feiern, wie bei den «Saturnalien», als die Besatzungen von Blackbeard und Charles Vane sich 1718 auf North Carolina Ocracoke Island zusammenschlossen. Es gibt sogar Beweise dafür, dass es eine Piratensprache gab, was ein echtes Zeichen dafür ist, dass die Piraten eine eigene Kultur entwickelten. Philip Ashton, der im Jahr 1722-23 16 Monate unter den Piraten verbrachte, berichtete, dass einer seiner Entführer «nach dem Brauch und in dem Dialekt der Piraten mich fragte, ob ich ihre Charta unterzeichnen würde.» Es gibt auch eine witzige Darstellung, wie ein gefesselter Pirat «sein Leben [durch] einfaches Fluchen und Lästern» rettete. Durch die Aufspaltung und das wieder Zusammenkommen – die Männer wechselten oft das Schiff – gab es eine große Kontinuität zwischen den verschiedenen Piratencrews, die dieselben Sitten und Bräuche und im Laufe der Zeit ein spezifisches «Piratenbewusstsein» teilten. Die Aussicht, dass diese Piratengemeinschaft zu einer dauerhafteren werden könnte, war eine Bedrohung für die Behörden, die befürchteten, dass sie einen «Commonwealth» in unbewohnten Regionen errichten würden, wo «keine Macht in diesen Teilen der Welt es mit ihnen aufnehmen könnte.»9

*Britisches Kollektiv, das eine gleichnamige Zeitschrift für radikale Ökologie herausgibt. Dieser Text wurde in ihrer Nr. 8 (2001) veröffentlicht. Übersetzung FTP, Korrekturen Archipel.

Kein copyright. http://www.eco-action.org/dod/index.html

  1. Rediker, Op. Zit; Hakim Bey – TAZ Temporäre Autonome Zone (Paris L’Eclat, 1997), L’art du chaos (Paris, Nautilus, 2001)
  2. Ritchie, Op. Zit.
  3. Ibid.
  4. Daniel Defoe (Captain Charles Johnson) – Histoire Général des Plus Fameux Pyrates
    (Paris, Phébus,1990)
  5. Robert C. Ritchie, Captain Kidd and the war against the pirates
  6. Lawrence Osborne - A Pirate‘s Progress: How the Maritime Rogue Became a Multicultural Hero’ Lingua Franca März 1998
  7. Ritchie, Op. Zit.; Markus B. Rediker – Libertalia the pirate’s utopia, in David Cordingly (ed); Defoe, Op. Zit.
  8. Rediker Op. Zit.
  9. Rediker Op. Zit; Douglas Botting und die Verleger von Time-Life Books – The Pirates (Amsterdam, Time Life, 1979); Rediker. Op. Zit; Defoe, Op. Zit.