GESTERN - HEUTE - MORGEN: Tiefenanalyse der kapitalistischen Gesellschaft

von Aurelien Berlan, 03.04.2013, Veröffentlicht in Archipel 213

GESTERN - HEUTE - MORGEN: Tiefenanalyse der kapitalistischen Gesellschaft
Aurelien Berlan greift in seinem Buch La Fabrique des derniers hommes die Theorien der Gründerväter der deutschen Soziologie auf, um die tiefliegenden Strukturen unserer Gesellschaft zu analysieren. Aus der Einleitung*, zweiter Teil .

Am Ende des 19. Jahrhunderts zögerten die verschiedenen akademischen Disziplinen in Deutschland nicht lange, sich die durch den Ausbruch der industriellen Moderne aufgeworfenen Fragen anzueignen. Mindestens drei Wissenschaften konkurrierten in der öffentlichen Debatte über die moderne Welt und die Übel, welche an ihr nagten, und machten Lösungsvorschläge. Einerseits war das die Philosophie, in Form einer «Philosophie des Lebens» oder der «Kulturphilosophie», des weiteren ein neuer allgemeiner Zugang zur Geschichte, die «Kulturgeschichte», und schliesslich die politische Ökonomie und deren marxistische Kritik. Doch gelang es keinem dieser Ansätze innerhalb ihrer Grenzen, die Probleme der Gegenwart in all ihren Dimensionen zu erfassen. Um diese Probleme zu formulieren, mussten die Klüfte zwischen den Disziplinen überwunden werden.
Dies haben Max Weber, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies geschafft und erreichten damit eine bemerkenswerte Hellsicht, die sich an der fortbestehenden Aktualität ihrer Diagnosen messen lässt – auch noch mehr als ein Jahrhundert später. Mit seiner Analyse über die Prinzipien und Auswirkungen des Übergangs vom gemeinschaftlichen Leben zur Marktgesellschaft hat Tönnies eine grundlegende Analyse über den Verlust der sozialen Bindungen gemacht, der die Moderne charakterisiert. Mit seinem Interesse für die Rolle des Geld hat Simmel die kulturellen Auswirkungen der Vermarktung von Beziehungen und Gütern ins Licht gerückt: die Liquidierung aller Stabilität, die Aufblähung der Kalkulationsmöglichkeiten, die Entwicklung einer negativen individuellen Freiheit, die in der Sinnlosigkeit versinkt. Weber hat mit seiner Analyse der Entfaltung des Industriekapitalismus und des bürokratischen Staates, die moderne Zunahme der Verwaltungs- und Disziplinarlogiken hervorgehoben und ihre Auswirkungen herausgearbeitet: Verlust von Freiheit und von Sinn, Bürokratisierung und Entzauberung der Welt.

Rationalisierung unseres Lebens

Auch wenn sie sich jeweils auf einzelne unterschiedliche Fragen konzentriert haben, überschneiden sich die drei weitgehend und weisen auf eine grundlegende Problematik unsere Zeit hin: auf jene der «Rationalisierung», die sich unserer Aktivitäten und Gesellschaften bemächtigt mit all ihren sozialen, kulturellen und menschlichen Implikationen. Indem sie diesen Prozess aufzeigen, der von den drei Mächten der Moderne (Kapitalismus, Staat, Wissenschaft – siehe Teil 1, Archipel 212), die am Ende des 19. Jahrhunderts eine Synergie eingegangen sind, vorangetrieben werden, und der das Individuum in Sinnlosigkeit und Ohnmacht einsperrt, machen Weber, Simmel und Tönnies ein Ende mit einem der abgedroschensten Fehler in der Reflexion über die moderne Welt: die Idee, sie sei das Reich des Individuums, das sich einer Freiheit ohnegleichen erfreut. Bei Weber werden wir sehen, dass sie vielmehr das Reich der «Organisationen» verkörpert (seien es private Unternehmen oder öffentliche Administrationen). Eigentlich meint «Rationalisierung» nichts anderes als ihr steigender Einfluss auf unser Leben. Die Moderne ist keine Gesellschaft, in der das Individuum König ist, sondern vielmehr eine Welt der Organisationen, die das Individuum desozialisiert, indem sie es übersozialisiert1: wenn der einzelne auf die Schlüsselpersonen des alltäglichen Lebens verzichten kann, wie etwa den Bäcker, den Briefträger etc. (Individualisierung, Vereinzelung), dann mit dem Preis einer vollständigen Abhängigkeit von den Organisationen2 (Integration ins «System»). Dies ist das Resultat des sogenannten Fortschritts. Indem sie dies aufzeigen, sind die drei Autoren weniger der Soziologie zuzuordnen, wie sie heute praktiziert wird, als der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, von der ich eine Art Vorgeschichte schreibe.
Sicherlich, die Welt hat sich in diesem Jahrhundert verändert, im Rhythmus der aufeinanderfolgenden industriellen Revolutionen sowie der politischen und kulturellen Entwicklungen, die von ihnen hervorgerufen wurden. Aber was die «Gründerväter der deutschen Soziologie» herausgearbeitet haben, ist heute immer noch dringlich. Ihr Verdienst ist es, die strukturellen Tendenzen der kapitalistischen Moderne identifiziert und ihre wichtigsten Folgen umrissen zu haben. So haben ihre Analysen nichts an Aktualität verloren. Auf sie zurückzukommen, könnte alle voranbringen, die sich fragen, welches die Kräfte sind, die unsere Welt umbauen, welche Gründe es gibt, jene zu kritisieren und welche Fallgruben eine sinnvolle Opposition vermeiden sollte. Dies gilt für einen Grossteil der Bücher, die heutzutage auf dem Markt der «kritischen Reflexion» verkauft werden.
Aus dem Blickwinkel der sozialen Herrschaft würde man viele Verhaltensweisen besser verstehen – etwa seine Nachbarn nicht mehr zu kennen, sich nicht mehr vorstellen zu können, das Haus ohne Portemonnaie zu verlassen oder ständig Formulare ausfüllen zu müssen. Mit der Zeit sind all diese Dinge «natürlich» geworden. Jedenfalls für die meisten von uns, die in diese Welt geboren wurden und keine andere Lebensformen kennen, als diejenige, die auf Geld, Lohnarbeit und administrative Regelung des Lebens aufbauen – ausser sie sehen sie im Fernsehen und auf Reisen. Daraus folgt, dass diese Aspekte in den zeitgenössischen Analysen oft vernachlässigt werden. Vor allem jene Aspekte, die unsere gegenwärtig aktuellen «Krisen» betreffen. Es wird vorgezogen, mit dem Finger auf einige besonders gaunerische öffentliche Figuren und Institutionen zu zeigen, als die ganze Reichweite dessen einzubeziehen, was unsere Lebensformen implizieren.
Ohne diesen strukturellen Phänomenen Rechnung zu tragen, ist es unmöglich, die Dynamiken zu verstehen, die die Gegenwart bestimmen, die Wurzeln der Probleme, die sich stellen, sowie die Aufgaben, die auf uns zukommen. Der Verdienst der ersten deutschen Soziologen ist es, die Logiken zu beschreiben, die unseren Alltag in der Tiefe strukturieren und die wir aus diesem Grund nicht mehr in Frage stellen können. Sie erinnern uns daran, dass es sich dabei um historische Erscheinungen handelt, die einen Ursprung und auch ein Ende haben. Um die Gegenwart zu denken muss man nicht immer an ihr kleben bleiben, sondern Abstand zu nehmen wissen. Mit einer Rückschau zur industriellen Revolution, welche die Geburt unserer heutigen Welt darstellt, könnte man besser zur Gegenwart zurückfinden.

Entwicklung einer disziplin-übergreifenden Methodik

Das Aussergewöhnliche an Weber, Simmel und Tönnies ist auch die Tatsache, dass sie auf methodologischer Ebene drei verschiedene Modelle herausgearbeitet haben, welche die Hauptausrichtungen ankündigen, die im 20. Jahrhundert die besorgten Reflexionen über die Gegenwart annahmen. Jeder von ihnen hat eine eigenständige Methode entwickelt, um ihre Epoche disziplinübergreifend zu denken: der ethisch-theoretische Ansatz von Tönnies kündigt denjenigen von Habermas an, die Alltagsphänomenologie Simmels hat Benjamin und Kracauer stark beeinflusst und die historische Genealogie von Weber wurde von Foucault wieder aufgenommen. (...)
Es ist zwar nicht falsch, die drei als «Gründer der Soziologie» zu bezeichnen, insofern sie immer unterstrichen, dass die Probleme ihrer Zeit mit den neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens einhergingen, die von der Entwicklung der Marktwirtschaft bedingt wurden. Zwar konnten sie sich als «Soziologen» qualifizieren und haben mit ihrem Engagement für die «Deutsche Gesellschaft der Soziologie», die sie 1909 gründeten, zur Institutionalisierung dieser Disziplin beigetragen, aber die Soziologie war für sie kein Endzustand, sondern ein Mittel, um die Probleme der Gegenwart zu verstehen. Trotz aller Versuche, sie einer akademischen Disziplin zuzuordnen, die im Zuge der Bürokratisierung des Wissens gemacht wurden, muss man sich in Erinnerung rufen, dass diese «Klassiker der Soziologie» sich nicht ausschliesslich und vornehmlich als Soziologen bezeichneten. (...)
Wenn ich mich also für sie interessiere, dann nicht im Hinblick darauf, was heute aus der Soziologie geworden ist, sondern im Hinblick auf eine Analyse der heutigen Zeit, für die sie unentbehrliche Interpretationsschlüssel liefern. Nicht zuletzt, weil sie die Wichtigkeit aufzeigen, jene Probleme hervorzuheben, die ganz eng mit unserer Lebensweise verbunden sind und die wir möglichst vermeiden anzuschauen.

Werkzeugkiste für eine radikale Kritik

Zahlreiche Intellektuelle, die sich «antikapitalistisch» nennen, beweisen darin eine Blindheit, die sie tunlichst hegen. Weber, Simmel und Tönnies, die gerne als «bürgerlich» angeschwärzt werden, erlauben hingegen eine radikalere Kritik der Gegenwart als so mancher, der heutzutage von «Revolution» oder «Kommunismus» spricht, ohne die entscheidende Lehre aus den verheerenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gezogen zu haben: nämlich, dass die industriellen Produktionsmittel eine Arbeitsteilung und eine Gesellschaftsorganisation mit sich bringen, die nicht ohne Herrschaft über die Menschen und Zerstörungen der Natur funktionieren.
Die Produktionskräfte haben, so meinte Marx, Auswirkungen auf die Gesellschafts- und Lebensformen. Der Verdienst von Tönnies, Simmel und Weber ist es, die negativen Auswirkungen der industriellen Produktionsmitteln konsequent zu verfolgen. Ihre Analysen erläutern, warum diese Produktionsmitteln weder im Westen noch im Osten eine Emanzipation ermöglicht haben. Dabei möchte ich nicht behaupten, dass Weber, Simmel und Tönnies alles verstanden hätten, sondern nur dass sie eine Werkzeugkiste anbieten, aus der sich jeder gute Instrumente holen kann, um zu verstehen, was aktuell mit uns geschieht – auf alle Fälle vertrauenswürdigeres Werkzeug als die Spekulationen über eine «strahlende Zukunft», die den konstitutiven Logiken der industriellen Wirtschaft keine Rechnung tragen und die sie nicht bereit sind zu kritisieren.

*Einleitung aus dem Buch von Aurelien Berlan: «La fabrique des derniers hommes. Retour sur le présent avec Tönnies, Simmel et Weber»; ed. La découverte, Paris 2012, bisher nur auf Französich erschienen.
Aurelien Berlan veröffentlicht mit diesem Buch seine Doktorarbeit, für die er 2009 den «Frankfurter Dissertationspreis für Philosophie» erhalten hat.

  1. Für diese Formulierung, die eine Idee zusammenfasst, die sich in der deutschen Soziologie immer wieder findet, beziehe ich mich auf René Riesel und Jaime Semprun, Catastrophisme, administration du désastre et soumission durable, Encyclopédie des Nuisances, Paris, 2008.
  2. In einem Dorf oder einer Gemeinschaft hat der Einzelne einen direkten Bezug zu den Menschen, von denen er Waren oder Dienstleistungen bezieht, z.B. dem Bäcker, heute jedoch hängt man von der nationalen und internationalen Brot- und Fleischproduktion ab: es ist unmöglich, das Brot mit einem Gesicht zu verbinden.