KOMMENTAR: Eine Wissenschaftsgeschichte – nur allzu progressiv

von Bertrand Louart* Radio Zinzine, 25.10.2011, Veröffentlicht in Archipel 197

Der Verlag L’Echappée hat kürzlich die Übersetzung eines Buches von Clifford D. Conner veröffentlicht unter dem Titel Histoire populaire des sciences1. Nachfolgende Bemerkungen zur Buchlektüre sind einige, die moderne Wissenschaft betreffende Überlegungen und Kritiken, die dem Autor dieser immerhin sehr interessanten Arbeit nicht in den Sinn gekommen sind. (1. Teil)

Dieses Buch durchstreift die Geschichte von Entdeckungen aller Art und versteht sich als Fürsprache und Illustration des Volkswissens, der traditionellen Praxis und der unbekannten Entdecker (Männer und Frauen) - im Gegensatz zu einer mehr «klassischen» Wissenschaftsgeschichte, welche die Rolle der «großen Männer» (viel seltener der «großen Frauen») und deren «große Entdeckungen» herausstreicht. Die Tatsache soll betont werden, dass die großen Figuren der Wissenschaft ihren Glorienschein erwerben und die sie unsterblich machenden Entdeckungen in Wirklichkeit nur tätigen konnten dank eines immensen Hintergrundes an empirischem Wissen und Erfahrungen, die die «werktätigen Klassen» seit Menschengedenken akkumuliert haben.
Howard Zinn, Autor der «Geschichte des amerikanischen Volkes»2 hat dem Werk seine Unterstützung und Ermutigung zukommen lassen. Kurz vor seiner Veröffentlichung ist er gestorben. Conner ist sich nicht zu schade für ein Rückbesinnen und die Weiterführung der Tradition eines «amerikanischen Marxismus», der den Akzent auf den Klassenkampf als Motor der Gesellschaftsgeschichte setzt, um in vorliegendem Fall eine Wissenschaftsgeschichte «von unten» zu schreiben.
Vom ersten Kapitel an verwendet der Autor viel Sorgfalt darauf, die «Gegenstände» zu definieren, die er zur Sprache bringt, speziell sein Verständnis von Wissenschaft. Und genau hiermit ergibt sich ein Problem, denn seine Definition ist sehr extensiv, ausufernd sogar: «Wissenschaft wird das ganze Buch hindurch in einem sehr weiten Sinn gefasst. An keiner Stelle versuche ich, sie in eine Definition zu pressen.» Kurz darauf formuliert er jedoch eine solche: «Wissenschaften beinhalten ebenso das Wissen, welches wir über die Natur gewonnen haben wie auch die Aktivitäten, die dieses Wissen hervorbringen.»
In der Tat, man versteht es beim Fortgang der Lektüre, der Autor betrachtet seinen Gegenstand aus einem progressiven Blickwinkel und stellt also moderne Wissenschaft als logisches Ergebnis und zwingende Vollendung der Entwicklung früherer Erkenntnisse und Praktiken dar. Für ihn ist das den «traditionellen Handwerksberufen» eigene Spezialwissen, das Know-how der Handwerker, Bauern, Seeleute und Heilkundigen etc. genauso eine «Wissenschaft» wie die in Forschungslaboratorien gewonnenen und durch Technologien zur Anwendung gebrachten Erkenntnisse. Kurz: «Wissenschaft» hat es immer gegeben und jegliche Form von Kenntnissen ist «Wissenschaft».

Unterschiedliche Wissenschaften

Diese Betrachtungsweise scheint mir jedoch mit einem schweren Irrtum behaftet, denn sie entkräftet den Standpunkt, den sie verteidigen will. So wie ich voll und ganz diesen Standpunkt teile, sind die Kritiken, die ich im Folgenden vorbringen werde, keinesfalls als Verunglimpfung zu verstehen, sondern bestätigen und bestärken im Gegenteil seine Legitimität.
Denn indem der Autor unterschiedslos aus jeglicher Kenntnis eine Wissenschaft macht, begreift er nicht die Besonderheit moderner Wissenschaften im Vergleich mit anderen Kenntnisarten, die bis heute in traditionellen Gesellschaften und den verschiedenen Zivilisationen im Verlauf der Geschichte existiert haben und existieren. Den werktätigen Klassen wurde die Verfügungsmacht über ihr ureigenstes Wissen und ihre Praktiken gestohlen, wovon industrielle Bourgeoisie und Kapital profitierten. Dies prangert der Autor mit vollem Recht an. Nur bleibt in seiner Betrachtungsweise verborgen, dass das nicht allein die Frucht eines Willensaktes der herrschenden Klassen sei (sie ist es auch, man sieht es z.B. daran, wie in den so genannten «Entwicklungs-» und «Schwellenländern» mit Saatgut, Grund und Boden, Wasser etc. verfahren wird) sondern dass dieser Wissensdiebstahl das Wesen des Erkennens der Welt mit den Methoden der experimentellen Wissenschaft konstituiert. Das was man heute «Wissenschaft» nennt, ist eine spezielle Form der Erkenntnis, die nicht ohne weiteres jedem zugänglich ist und die vor allem eine ihr eigene Beziehung zu ihren «Gegenständen» hervorbringt, weit davon entfernt, politisch so neutral zu sein, wie der Autor uns an bestimmten Stellen glauben machen will.
Conner neigt dazu, eine Geschichte zu schreiben, die das Wissen der unteren Klassen rechtfertigt und begeht einige Male (glücklicherweise nur sehr selten) den Fehler altbekannter Historiker, nur umgekehrt. Im zweiten Kapitel zum Beispiel, wo er das Problem aufwirft, ob bei der Menschwerdung eher «die Hand oder das Hirn» von Bedeutung war, antwortet er treu dem Zitat, welches dem Buch als Motto vorangestellt wurde: «Am Anfang war das Wort! (…) Nein! Am Anfang war die Tat! – Goethe, Faust». Im Gegensatz zur klassischen Historiographie, die der Entwicklung des Gehirns Priorität einräumt, gibt er der Hand den Vorrang.
Im weiteren Verlauf des Kapitels jedoch gibt er unfreiwillig eine Antwort, die mir zutreffender scheint, nämlich dass doch eher das Wort, die Entwicklung der Sprache der bestimmende Faktor bei der Menschwerdung sei: «Worsley unterstreicht, dass es nicht so sehr die Summe der Kenntnisse ist, über welche die Aborigines verfügen, die beeindruckt, als vielmehr der Fakt, dass alles entsprechend einer Klassifikation geordnet ist, welche an der Basis die Unterscheidung zwischen Pflanzen und Tieren vornimmt und im folgenden diese Kategorien in Untergruppen einteilt.» Die Dinge und Lebewesen, den Umgang mit ihnen, wie auch deren Verhältnis und Zusammenhang untereinander präzise zu benennen, heißt fähig sein, sie wahrzunehmen, sich ihre Verbindung vorzustellen und also möglicherweise neue Formen des Einwirkens auf die Welt zu ersinnen. Sprache bildet die Voraussetzung von Bewusstsein, das heißt der Fähigkeit, sich von sich selbst eine Vorstellung zu machen, von eigenem Tätigsein und seinen Konsequenzen.

Anspruch auf Objektivität

Die Methode der experimentellen Wissenschaft wurde vom 17. Jahrhundert an durch und für die Physik sowie die Mechanik entwickelt; zum Studium der Bewegungen von und der Relationen zwischen Körpern, das heißt zum Studium dessen, was man als leblose, tote und unbewegte Objekte ansieht. Die Besonderheit dieser Erkenntnisform besteht in dem Anspruch auf Objektivität. Diese besteht darin, nur die Eigenschaften der Körper, die messbar und quantifizierbar und diejenigen Phänomene in Betracht zu ziehen, die isolierbar und reproduzierbar in einem von der Umwelt abgegrenzten Milieu sind, dem heutigen Labor also. Einerseits ist also das Objekt vom Rest der Umgebung isoliert und den mannigfaltigen Relationen, in die es eingebunden ist; und andererseits muss auch der Beobachter (Experimentator) seinerseits von allen Beziehungen, in die er eingebunden ist, abstrahieren: Er muss aus seiner Studie alle subjektiven Einflüsse ausschließen, die sie verfälschen könnten, dass heißt Gefühle wie Symbole außer Betracht lassen und alle symbolischen Assoziationen auf persönlicher, sozialer oder kultureller Ebene ausklammern. Er muss die «Realität so wie sie ist» mit seinen Messapparaten betrachten und darf seine Beobachtungen und Experimente keinesfalls von etwas überlagern lassen, was «menschlich, allzu menschlich» ist.
Dieser Schritt erscheint heute vielleicht normal und logisch, wenigstens denen, die eine Wissenschaft studiert haben, aber die kulturelle Revolution, die notwendig war, damit diese Art von Naturbetrachtung sich durchsetzen konnte, wird allgemein außer Acht gelassen. Denn die wissenschaftliche Methode suggeriert, dass unsere Sinne uns täuschen: Sie würden uns beispielsweise zeigen, dass die Erde platt ist und die Sonne sich um uns dreht. Einzig unsere Vernunft könnte die Schleier von der Realität reißen, die uns vernebeln, und ließe uns begreifen, dass die Erde rund ist und sich um die Sonne dreht.
(Ich würde nebenbei bemerkt gern einmal in Erfahrung bringen, wie viele Personen von denen, die heutzutage letztere Aussage bejahen, denn überhaupt Argumente zu deren Beweis beibringen können… Häufig hat man etwas aus dem wissenschaftlichen Katechismus aufgeschnappt ohne zu verstehen, worum es geht. Und die Wissenschaftslehre an den Universitäten kann ebenso dogmatisch und engstirnig sein, wie früher die der Theologie. Davon zeugt ein bei Wissenschaftlern nur spärlich vorhandener kritischer Geist, sobald es um die Anwendung ihrer Forschungsergebnisse geht.)
Hat die Methode der experimentellen Wissenschaft erst einmal gestattet, die «Gesetze der Natur» zu entdecken, denen Bewegung und Veränderung der Körper unterworfen sind, wird es möglich, Maschinen zu konstruieren, die Handwerk und Kunstfertigkeit, menschliche Aktivität also, ersetzen, welche in der Tat begrenzt und unvollkommen ist. Maschinen sind zugleich Nachweis und Realisierung der mit der wissenschaftlichen Methode entdeckten Naturgesetze und oft kann diese mit den Apparaten noch viel weiter geführt werden: Das Teleskop oder Mikroskop sind Anwendungen der Gesetze der Optik und sie gestatten beispielsweise, das unendlich Große oder unendlich Kleine, bis dahin unzugänglich, zu erkunden. Wissenschaft und Technik sind von Anfang an eng miteinander verzahnt, wie Conner es am Beispiel von Newton darstellt.
Die Bauern ihres Bodens und die Handwerker ihrer Arbeitswerkzeuge durch politische und gesetzgeberische Maßnahmen zu berauben, gehört zum Arsenal zur Knechtung der arbeitenden Bevölkerung. Das Ganze hat jedoch einen Haken: Wer produziert dann noch? Und wie anders sollte eine Produktion möglich sein, wenn nicht mit Arbeitern, die ihr Metier beherrschen? Schon Platon beschrieb dies vor 2500 Jahren als die Dialektik von Herr und Sklave.

Maschinen statt Arbeiter

Nur bringen Knechtschaft und Unterdrückung die Revolte hervor. Also muss sich das gesellschaftliche Verhältnis der Unterordnung des Arbeiters unter den Besitzer der Produktionsmittel in einer konkret fassbaren Realität kundtun, zum Beispiel mittels Maschinen. Maschinen sind Gestalt gewordenes, im fast fotografischen Sinne des Wortes materiell fixiertes Know-how. Der sich in seinem Fach auskennende Arbeiter ist das Problem. Ihn gilt es zu eliminieren, um den herrschenden Klassen zu gestatten, sich die Produktion und den Mehrwert, den sie generiert, direkt anzueignen: Die Maschine spielte diese zutiefst reaktionäre Rolle während der industriellen Revolution in England, ganz abgesehen von anderen politischen und sozialen Maßnahmen, die dazu bestimmt waren, Bauern und Handwerker in Abhängigkeit zu bringen.
Wissenschaft und Technik wirkten bei der Geburt des Industriekapitalismus als politische Kraft im Dienst der aufsteigenden Bourgeoisie. Man kann darüber hinausgehend sagen, dass der Kapitalismus selbst als Ganzes inspiriert wurde durch eine strikt «wissenschaftliche» Vision davon, wie Gesellschaft zu organisieren sei. Diese wäre demnach auf die alleinige Funktion der Produktion und Distribution materieller Güter reduziert, die Bereiche Wirtschaft und Technik wären unabhängig und würden die sozialen Beziehungen, politischen Institutionen und die Kultur beherrschen3 – genau das kann man heute beobachten.
Im Gegensatz zu dem, was Conner denkt, gibt es also keine Kontinuität zwischen dem Volkswissen und der modernen Wissenschaft, sondern vielmehr einen radikalen Bruch mit aus kultureller und gesellschaftlicher Sicht immensen Verlusten. So wurde dies übrigens im 17. Jahrhundert unmittelbar und auf schmerzliche Weise von zahlreichen Dichtern und Schriftstellern empfunden, die über eine «Entzauberung der Welt» klagten, die die moderne Wissenschaft und deren Anwendungen mit sich brächten.
Wenn Religion die Kontemplation des Himmels von der Erde aus ist, eine Idealisierung und Verabsolutierung der notwendigerweise stark eingeschränkten Aktivität des Menschen, so ist Wissenschaft gewissermaßen das Gegenteil: Die Transformation der Erde vom Himmel, von einem unpersönlichen und nicht menschlichen Standpunkt aus, indes auch keinem göttlichen, sondern dem der absoluten und abstrakten Macht, dem des «kalten Interesses, wo nur Geld ohne Gefühl zählt» (Marx). Und dies in solchem Maße, dass Wissenschaft und Technik heute zur offiziellen Staatsreligion geworden sind.

* Bertrand Louart ist zudem Redakteur von Notes & Morceaux Choisis, wissenschafts-, technik- und sozialkritisches Bulletin, herausgegeben vom Verlag La Lenteur, Paris.

  1. etwa: «Geschichte der Wissenschaften der Völker». Das Buch wurde 2005 in den USA veröffentlicht. Die französische Übersetzung erschien 2011 im Verlag L’Echappée.
  2. Übersetzt und herausgegeben vom Verlag Agone, 2002.
  3. Das ist die These von Karl Polanyi in La grande transformation, aux origines politiques et économiques de notre temps, 1941, Verlag Gallimard, 1983.