Hunger – über die Gründe für Unterentwicklung

von Jacques Berguerand Longo mai, 15.06.2011, Veröffentlicht in Archipel 193

Mit diesem Artikel setze ich eine Reihe von Buchvorstellungen fort, die um ein gemeinsames Thema kreisen und einigen hartnäckigen Mythen ein Ende bereiten. Nein, Hunger ist kein Schicksal, für welches das launische Klima, die Überbevölkerung der Erde oder irgendeine minderwertige Rasse verantwortlich gemacht werden müssten. Selbst wenn einige Kontinente vorteilhaftere Bedingungen haben als andere, bleibt Hunger eher das Resultat von sozialen und wirtschaftlichen als von geographischen Faktoren: Für Hunger ist hauptsächlich der Mensch verantwortlich. (2.Teil)*

Nach Afrika und Australien ist der amerikanische Kontinent am dünnsten besiedelt. Dennoch ist Hunger auf diesem Kontinent seit der Eroberung durch die Europäer nicht unbekannt.

Südamerika

Die Siedler setzen auf den tropischen, mineralstoffarmen Böden den Anbau von Mais in Zentralamerika, Maniok im Amazonasbecken und Kartoffeln im Gebiet der Anden durch. Diese Monokulturen bringen der einheimischen Bevölkerung eine Ernährung, die zwar reichhaltig an Kohlehydraten (bis zu 80 Prozent), aber arm an Proteinen, Mineralstoffen, Kalzium, Eisen, Jod, Vitaminen und Kalorien ist. Der dadurch entstehende Vitaminmangel (Vitamin B1) führt sehr oft zur Krankheit Beriberi.
Argentinien, Chile, Paraguay, Uruguay sowie der Süden Brasiliens, die kegelförmig den südlichen Teil des Kontinents bilden und insgesamt gesehen für Landwirtschaft und Viehzucht geeignete Böden vorweisen, verschaffen ihrer Bevölkerung eine bessere Ernährung, die proteinreicher und vielseitiger ist als im Norden. Hingegen leiden die Armen in den Großstädten Sao Paulo, Rio de Janeiro und Buenos Aires noch häufig an Mangelerscheinungen aller Art. Die schlechte Ernährung und sogar Unterernährung bringt Krankheiten wie Tuberkulose und Wurmbefall mit sich.
Auf diesem Kontinent ist der Hunger an soziale und politische Faktoren gebunden. Er ist verbunden mit der Vergangenheit des Kontinents und der kolonialen Ausbeutung von Gold, Zucker, Kaffee, Kautschuk, Tabak, Bananen, Kakao und heute von Erdöl, Mais, Palmöl und genverändertem Soja: Koloniale oder neokoloniale Monokulturen auf Latifundien, einst diesen dünn besiedelten Ländern mit riesigen landwirtschaftlichen Ressourcen von den spanischen, portugiesischen, französischen und englischen Kolonialherren militärisch aufgezwungen, heute in den Händen multinationaler Großkonzernen.

Nordamerika

Im nördlichen Teil des amerikanischen Kontinents sind die Nahrungsbedingungen besser als im Süden. Trotzdem gibt es in den amerikanischen und kanadischen Großstädten (New York, Chicago, Toronto, Quebec, Halifax) starke Mangelerscheinungen von Eisen, Phosphor, Kalzium und Vitaminen. Auch auf diesem Kontinent sind die Unterschiede sehr groß.
Die Situation auf den Karibikinseln wie Jamaika, Barbados, Tobago, Trinidad war und ist immer noch katastrophal. Geprägt wurde sie von der Zuckerrohrmonokultur, der Sklaverei und der noch heute dominierenden Kaste der Zuckerbarone und Plantagenbesitzer. Auf der gebirgigen Insel Porto Rico setzten die Amerikaner, nachdem sie den Tabak- und Kaffeeanbau entwickelt hatten, eine absolute Zuckerrohrmonokultur durch. Damit wurde das Land zu 60 Prozent vom amerikanischen Lebensmittelimport abhängig. Früher baute die Bevölkerung für ihre Selbstversorgung auf kleinen Landstücken verschiedenste Nahrungsmittel an und betrieb Viehzucht. Ihre Gesundheit war dementsprechend viel besser. Eine auf Monokultur beruhende Wirtschaftsform fördert eine künstliche Konzentration der Bevölkerung und bewirkt eine Art lokal begrenzter Überbevölkerung.

Der Süden der USA

Bodenbeschaffenheit und Klima sind beide gut für Landwirtschaft geeignet. Die rötlich-gelbe Erde hat eine gute Qualität. Die schwarze Erde von Alabama und die Schwemmlandböden im Mississippi- und Ohiotal sind ebenso fruchtbar wie die dafür berühmte Nilebene. Ergiebige Regenfälle, viel Sonne und milde Winter kennzeichnen das Klima. Trotzdem hinterlässt die Epoche der Pioniere Hunger als ein hartnäckiges Erbe. Diese Zeit steht für Kolonialismus und Sklaverei, die indianische Urbevölkerung war entweder vertrieben, oder massakriert worden.
Am Anfang des 17. Jahrhunderts legte die „Company of London“ die ersten Tabakkulturen in Virginia, Maryland, Süd- und Nord-Carolina an. Baumwollkulturen breiteten sich im Mississippi-Tal aus. Später entwickelten sich Zuckerrohrplantagen entlang der Küste von Louisiana. Die zu Beginn der Kolonisierung verteilten kleinen Parzellen eigneten sich nicht zum Anbau von riesigen Monokulturen für den Exporthandel. Das Land konzentrierte sich in den Händen von Wenigen, die sich schwarze Sklaven zu dessen Bewirtschaftung hielten. Nach dem Sezessionskrieg und der Abschaffung der Sklaverei bearbeiteten vor allem Pächter unter sklavenähnlichen Bedingungen die Böden und bildeten die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung dieser Region. Die Besitzer der großen Plantagen hielten die Pächter in feudal anmutenden Verhältnissen und ermutigten nie dazu, Viehzucht zu betreiben oder Gemüse- und Obstgärten anzulegen. Denn das hätte mit ihren Interessen an Arbeitskräften und Flächen in Konkurrenz gestanden. Die armselige, nur aus Mais und Speck bestehende Ernährung bewirkte, dass massenweise Menschen an Pellagra zugrunde gingen. Diese Krankheit entwickelt sich in Folge eines Mangels an Vitamin B, welches in Milch, Eiern und Fleisch enthalten ist. Nach und nach wurden die kleinen, vom Ruin betroffenen oder verlassenen Höfe von Finanzgesellschaften aus dem Norden aufgekauft und für eine industrielle Produktionsweise mit billigen Arbeitskräften ausgerichtet. Die Situation der Pächter, Kleinfarmer und Landarbeiter war noch schlimmer als zuvor für die Sklaven. Eine ganze Bevölkerung verlor in den 1930er Jahren alles und zog, in riesige Staubwolken gehüllt, westwärts, vor allem nach Kalifornien. Der Roman „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck beschreibt diese Epoche sehr eindrücklich.
Mehrere Faktoren spielen beim Niedergang der Plantagen eine Rolle. Nur solange die Baumwolle im Mississippi-Tal von Sklaven produziert wurde, war sie auf dem Markt konkurrenzfähig. Mit der Abschaffung der Sklaverei verschwand dieser Vorteil, der im Norden als unlauterer Wettbewerb angesehen wurde. Die Baumwoll- und Tabakmonokulturen lösten eine nie zuvor gesehene Erosion der Böden aus. Diese Erosion, wie auch der Hunger und das herrschende Elend waren die direkten Auswirkungen des systematischen Anbaus riesiger Monokulturen. Heute leidet Argentinien unter diesem Phänomen aufgrund des Anbaus von genmanipuliertem Soja auf zwei Dritteln seiner landwirtschaftlichen Flächen.
Afrika: der Hunger des „Schwarzen Kontinents“
Hunger und chronische Unterernährung sind, wie auch auf dem asiatischen und dem südamerikanischen Kontinent, die wichtigsten Gründe für die späte Entwicklung.
Die riesige Sahara-Wüste durchquert den Kontinent von West nach Ost, vom Atlantik zum Roten Meer, und teilt ihn in zwei kulturell verschiedene Welten: das mediterrane Nordafrika und das äquatoriale Schwarzafrika mit seinem Tropenklima im Süden. Die südliche Spitze bildet mit ihrem gemäßigten Klima die Ausnahme. Wasserlieferanten des Kontinents, der das meiste Land von allen Kontinenten in Tropenlage hat, sind die großen Ströme Nil, Niger, Kongo, Sambesi, ...

Nordafrika

Die römische Ausbeutung des mediterranen Teil Afrikas endete mit der Zerstörung des forst- und landwirtschaftlichen Ökosystems, das hauptsächlich auf Waldwirtschaft und Anbau von Getreide und Olivenbäumen beruhte. Zu jener Zeit tummelten sich Elefanten im Atlasgebirge. Die portugiesische Kolonialisierung der afrikanischen Küsten im 15. Jahrhundert führte zu Sklavenhandel und der Ausbeutung von Sklaven in riesigen Zucker- und Kaffeeplantagen. Nach den Portugiesen schlugen die Spanier, die Franzosen und die Engländer Profit aus den Reichtümern des Kontinents. Die Steppen und wüstenähnlichen Zonen sind häufig von Trockenheit betroffen, was periodische Hungersnöte verursacht. Der Druck der europäischen Kolonialisierung führte auch zu hartnäckigem, chronischen Hunger in den äquatorialen Waldgebieten und der tropischen Savanne. Der Nil, an dessen Ufern der Großteil der ägyptischen Bevölkerung lebt, bildet das Herz der ganzen regionalen Landwirtschaft. Bleibt die Überflutung der Ufer aus, was seit Menschengedenken zeitweise eintritt und wahrscheinlich mit dem klimatischen Phänomen des El-Nino zusammenhängt, folgen schreckliche Hungersnöte. Zur Bändigung der Fluten des Nils bauten die Engländer ab 1902 den Assuan-Staudamm. Dass er einzig der Entwicklung der Zuckerrohr- und Baumwollproduktion zum Export in die englische Metropole diente, unterstreicht seine Fragwürdigkeit. Vor dieser tiefgreifenden Veränderung existierten Tauschbeziehungen mit Nomadenvölkern, und der Konsum von Fleisch und Milchprodukten war nicht unbedeutend.
Der riesige afrikanische Kontinent leidet nicht an Überbevölkerung, aber daran, dass seine Bevölkerung nach und nach verarmt und proletarisiert wird. Das fehlende politische Streben nach gerechteren Zuständen bewirkt, dass die Bewohner des mediterranen Afrika ihre Dörfer verlassen, denn jetzt eignen sich neue Kolonialherren ihr Land an. Sie emigrieren in die Küstenstädte (heute nach Europa) und überfüllen die Armenviertel der afrikanischen Großstädte.

Die südliche Sahara

Der zweitgrößte tropische Regenwald nach dem im Amazonasgebiet breitet sich südlich der Sahara aus. Eine Studie über urtümliche Stämme in Kenia und im Kongo zeigt, dass sie wenige Mangelerscheinungen aufweisen. Ihre relativ ausgewogene Ernährung basiert auf der Jagd, Maniok, Palmöl und Früchten. Aufgrund möglicher Krankheiten ist Tierzucht in der Äquatorzone schwierig. Mit der Ankunft der Kolonialherren begann der Anbau von Kakao, Kaffee und Erdnüssen für den Export auf großen landwirtschaftlichen Betrieben, und die Ernährungsweise verschlechterte sich. Die britische Kolonie Gambia und die französische Kolonie Senegal entwickelten den Anbau von Erdnüssen, was eine starke Erosion des Bodens hervorrief, die Bevölkerung proletarisierte und zum Sklaventum erniedrigte. Sie mussten in den Plantagen arbeiten und Steuerabgaben in Form von Geld leisten. Das zwang sie, Kulturen für den Markt statt der üblichen Nahrungsmittel für den Eigenbedarf auf ihrem Land anzubauen. An der Elfenbeinküste bevorzugten die Franzosen den Kakaoanbau. Kakao hat dort heute die gleiche Bedeutung wie Erdöl in anderen Ländern. Dafür wurden die Wälder zerstört. Das Fehlen von frischen Lebensmitteln führte in den Minengebieten des Kongo zu starken Mangelerscheinungen. Eingebettet zwischen zu trockener Wüste und zu feuchtem Regenwald eignet sich die afrikanische Savanne besser zur Landwirtschaft als diese Gebiete. Die Berberstämme der Sahara und somalische Hirten führen ein intensives ländliches Leben, und ihre sehr reichhaltige Nahrung beruht auf Milchprodukten, Fleisch, Datteln und Reis.
Die Südspitze
Die schwarze Urbevölkerung dieser Region südlich des Wendekreises des Steinbocks mit gemäßigtem Klima lebte von Jagd, Tierzucht und Maisanbau. Von den englischen und holländischen Kolonialherren in Reservate gesperrt, ernährte sie sich nur noch von Mais. Das Fehlen von Proteinen, Fett und Vitaminen in ihrer Kost löste zum Beispiel Pellagra aus sowie den Verlust der allgemeinen Widerstandskraft gegen Krankheiten. Auch in Botswana entwickelte die einheimische Bevölkerung typische Krankheiten, die auf Proteinmangel zurückzuführen sind. Dies, obwohl das Hirtenvolk ausschließlich Tierzucht und Milchwirtschaft betrieb, deren Produkte jedoch für den Export bestimmt waren und nicht für den lokalen Verzehr.

Der Kampf gegen den Hunger

Für Josué de Castro ist kollektiver Hunger ein soziales und politisches Phänomen, dessen Gründe eher wirtschaftlicher als geographischer Art sind. Die Reichtümer der Erde sind ausreichend vorhanden. Viel Land in Afrika, Südamerika, Kanada und Russland wird noch nicht bewirtschaftet. Er schätzt es auf 600 Millionen Hektar. Auch gibt es viele erschöpfte und erodierte Landwirtschaftsflächen, die regeneriert werden könnten. Allein in den Vereinigten Staaten kommt er schätzungsweise auf 50 Millionen Hektar. Man müsste seiner Meinung nach die Anzahl der Bewohner ins Verhältnis zu der erzeugten Lebensmittelmenge und deren Qualität setzen und nicht wie die Neomalthusianer die Anzahl der Bewohner pro Quadratkilometer.
In agronomischer Hinsicht denkt Josué de Castro, dass noch umfangreiche Arbeiten zur Erforschung der Böden notwendig sind.
Er fordert, die Wirtschaft endlich nicht mehr den Kolonialinteressen unterzuordnen, die Rückeroberung von Souveränität, ein gerechtes Teilen der Ressourcen und die Beendung des Feudalismus. Das Problem, alle Menschen zu ernähren, ist heute immer noch nicht gelöst. Die Ereignisse in den nordafrikanischen Ländern, alles ehemalige europäische Kolonialgebiete, sind von tiefgreifenden demokratischen Forderungen geprägt. Treibende Kraft darin war ein rasanter Preisanstieg der landwirtschaftlichen Grundnahrungsmittel. Sie müssen zum Großteil importiert werden, obwohl sie in den täglichen Einkaufskorb auf dem Land wie auch in der Stadt gehören. Man könnte sagen, diese Länder sind noch von einer Art kolonialistischer Wirtschaft abhängig.
Inhalt eines nächsten Artikels wird Europa, danach Asien sein. Diese Zusammenfassungen sind längst nicht komplett, und die Lektüre dieses weiterhin aktuellen Buches ist empfehlenswert, denn auch heute leiden noch eine Milliarde Menschen Hunger.

* «Geopolitik des Hungers» von Josué de Castro, Suhrkamp Verlag .