MEXIKO: Das Konzept der Kommunalität in Theorie und Praxis (1.Teil)

von Georges Lapierre, 05.11.2012, Veröffentlicht in Archipel 208

Im Juli fand in der Longo Maï Kooperative Grange Neuve ein Treffen statt, an dem geschichtliche und theoretische Themen diskutiert wurden. In diesem Rahmen stellten George Lapierre, der seit langen Jahren in Mexiko aktiv ist, und Carlos Manzo, Athropologieprofessor, das Konzept der Kommunalität vor, welches in Mexiko als Gegenkraft zum Kapitalimus gesehen wird. George Lapierre hat das Konzept Kommunalität im folgenden Text erörtert.

Der mexikanische Staat erfährt wie eine Vielzahl oder sogar alle Nationalstaaten (kann man Nordkorea und Kuba davon ausnehmen, oder die Lage von China und Venezuela nuacieren?) mit voller Wucht das Gesetz eines Weltmarktes, eines weltumspannenden Handels, das von den Banken und transnationalen Firmen bestimmt wird. Auf höchster Staatsebene bemüht man sich, alle Weichen zu stellen, damit ausländisches Kapital leicht investiert werden kann. Bei diesen Investitionen sollten aber nicht nur die unmittelbaren Aspekte betrachtet werden, wie die Ausbeutung von Minen und anderen sogenannten natürlichen Ressourcen, sondern auch ihre Auswirkungen auf das soziale Leben. Das Kapital als Idee gibt sich die Mittel (Armee, Polizei) zur Effizienz und sichert sich die Abhängigkeit aller. Im Gegensatz zu Attila installiert die kapitalistische Welt eine Besetzungsstrategie von Territorium bis hinein in die Köpfe der Menschen.
Bis in die jünste Zeit gibt sich der mexikanische Staat und seine Einheitspartei PRI1 einen Anstrich von Provinzialität und fungiert als Stossdämpfer zwischen den Forderungen des Kapitalismus und der Bevölkerung, dessen Reaktion er fürchtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das mexikanische Bürgertum durch die zapastischen Aufstände, die der Enteignung des kommunalen Bodens durch Porfirio Diaz folgten, nachhaltig erschüttert worden. Die jüngste und totale Öffnung Mexikos für private Intressen2, seien es mexikanische oder internationale3, repräsentiert durch die multinationalen Konzerne der vom Kapitalismus durchdrungenen Länder wie die USA, Kanada oder die europäischen Staaten, trifft in der mexikanischen Bevölkerung auf starken Widerstand. Doch was schlagen diese Widerstandskreise vor? Was sehen sie als Gegenkraft zur Macht des Geldes? Wie sehen sie ihre eigene Entwicklung? Und wie erleben sie diese brutale Vereinnahmung ihres Alltags durch die Wirtschaftswelt?

Interkultureller Dialog

In Mexiko besteht weiterhin die Möglichkeit eines interkulturellen Dialogs zwischen den Verweigerern der Kommerzgesellschaft und der indigenen Welt, die bis heute mit ihrer eigenen Kultur und sozialen Organisation verbunden geblieben ist und die sich in verschiedenen Aspekten als Alternative zur kapitalistischen Welt präsentieren kann. Dieser Austausch entstand rund um verschiedene Konzepte wie jene über Autonomie, Territorium, Kommunität, Kommunalität...
In den folgenden Zeilen werde ich mich bemühen, das Konzept der Kommunalität näher zu erläutern, das vor über zwanzig Jahren in den Bergen von Oaxaca aufgekommen ist. Dieses Konzept ist mit dem Widerstand der indigenen Dörfer dieser Region verbunden, beschränkt sich jedoch längst nicht auf die Vergangenheit und diese Region, sondern ist für die Aktualität und die Zukunft offen. Wir haben es 2006 während des Aufstands in der Stadt Oaxaca wiedergefunden, z.B. in den Aussenquartieren der Stadt oder auf den Barrikaden; bis heute sehen die jungen Leute von VOCAL4 darin eine zu realisierende Idee. Dieses Konzept speist auch die Debatten des nationalen indigenen Kongresses, nahestehend der zapatistischen Bewegung und es preist die Autonomie und Selbstbestimmung der indigenen Völker an. Die Idee der Kommunalität hat ihren Weg gemacht. Sie erscheint als die Schnittmenge einer Realität, welche die indigene Gemeinschaft zu definieren sucht und eines Gesellschaftsprojektes, das es zu realisieren gilt. Dieses Konzept befindet sich an dem Punkt, wo Realität und Utopie aufeinandertreffen.
Die derzeitige Situation Mexikos erinnert auch an jene Zentraleuropas vor dem zweiten Weltkrieg, wenigstens so, wie Michael Löwy jene beschreibt5: Eine abrupte Beschleunigung der industriellen Produktion und des Handels, von dem das Unternehmerbürgertum profitiert, begleitet von einem Kulturverlust und dem Zerfall der früheren bäuerlichen Gemeinschaften und präziser von den traditionellen jüdischen Gemeinschaften in den Dörfern.
Diese Gemeinschaften bildeten innerhalb der bäuerlichen Welt allein durch ihre blosse Existenz Kerne des Widerstands. Sie basierten auf dem religiösen Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Volk. Dieses Gefühl war sowohl im Alltag, wie in der Geschichte und im kollektiven Gedächtnis verankert. Diese historische Situation im Zentraleuropa des beginnenden 20. Jahrhunderts begünstigte das Aufkommen einer Denkströmung, die inspiriert von der deutschen Romantik und dem jüdischen Messianismus, Träger eines sozialen Projekts libertärer Art war. Wir finden eine ähnliche Situation im heutigen Mexiko: eine brutale Beschleunigung der kapitalistischen Aktivität begleitet vom Zerfall des sozialen Lebens, aber auch eine Wiederaufwertung der traditionellen sozialen Beziehungen und eine Stärkung der Stätten des Widerstands, welche die Gemeinschaften und die indigenen Dörfer repräsentieren. Diese Situation hat eine Denkströmung geboren, die sich auf affinitäre Weise ausdrückt und welche ganz Lateinamerika durchzieht, allerdings mit einem hervorzuhebendem Unterschied: Man kann sie vielleicht als libertär bezeichnen, jedoch ist sie auf keinen Fall von der jüdisch christlichen Kultur inspiriert.
Dieses utopische Bestreben nach einem radikalen Wandel basiert nicht nur auf dem tragischen Gefühl einer Enteigung, sie ist nicht nur Ausdruck eines nostaglischen Schwärmens für archaische Werte, sondern sie nährt sich aus den lebendigen Kräften des Widerstands. In diesem Widerstand findet sie die Basis für ihr historisches Projekt. Auf der Seite der Utopie ist es das vage Bestreben nach einem tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft und das Ideal einer egalitären Gemeinschaft, auf der Seite der Realität basiert es auf Brauchtum, Tradition und einer über Generationen vermittelten Lebensweise. Zwischen den beiden Seiten existiert eine Beziehung, die wir als dialektische bezeichnen können und in der sich beide Seiten, Utopie und Realität, gegeseitig stärken: Die realen Gemeinschaften finden in der Utopie die Kraft, aus ihrer Isolierung herauszutreten, die Utopie findet in der Existenz der indigenen Gemeinschaten die Grundlage, um eine Zukunft aufzubauen.

Kommunalität als Lebensweise

Schon lange bevor die Kommunalität als soziales Projekt aufgetaucht ist, hat sie auf dynamische Weise das Leben in den indigenen Gemeinschaften bestimmt: „Die Idee der Kommunalität als Grundprinzip der indigenen Lebensweise steht im Zentrum der Diskussion, der Agitation und der Mobilisierung, und zwar nicht als Ideologie des Kampfes, sondern als Ideologie der Identität. Sie zeigt, dass die indigene Besonderheit in ihrem gemeinschaftlichen Sein besteht mit ihren eigenen historischen und kulturellen Wurzeln, an denen man versucht, das Leben der Völker als Völker auszurichten.“ schreibt Benjamin Maldonado6. Wir können sagen, dass es sich dabei um ein anthropologischen Projekt handelt, allerdings um eine Anthropologie von der anderen Seite her, gemacht von der indigenen Welt: Eine Reflexion, welche die indigenen Völker über ihre eigene Realtät führen. Diese Völker sich also nicht mehr Objekt einer anthropologischen oder ethnologischen Forschung, sondern Subjekt einer theoretischen Reflexion über sich selbst, über das was sie ausmacht. Diese Recherche, welche in der Sierra Norte von Oaxaca in den 1980er Jahren begonnen hat, wird bis heute in den Kursen zum „kulturellen Dialog“ weitergeführt. Deren Methodologie hat Juan José Rendón entwickelt und sie zielen auf die Selbsterkenntnis ab. Dabei geht es nicht um Selbsterkenntnis als Individuum, wie wir es uns denken würden, sondern um Selbsterkenntnis als Volk, als Gemeinschaft, die auf eine bestimmte Weise und in einem gewissen Geiste organisiert sind. Dabei handelt es sich also um eine theoretische Arbeit im Sinne Hegels. Wie kann man nun diese Organisationsweise und den Geist, der sie inspiriert, definieren und präzisieren?
Intellektuelle wie Floriberto Díaz Gómez, Mitglied der Ayuujk-Gemeinschaft von Tlahuitoltepec (Sierra Norte, Oaxaca), wie Jaime Martínez Luna, Zapothek der Gemeinschaft Guelatao (Sierra Norte, Oaxaca) haben mit anderen Partnern wie dem Linguisten Juan José Rendón diese theoretische Reflexion über die indigene Welt und ihre Grundwerte formalisiert. Die Kommunalität definiert die Lebensform und den Grund der Existenz der indigenen Völker. Sie besteht nach Floriberto Diáz aus fünf grundlegenden Elementen: 1. die Erde als Mutter und als Territorium, 2. die Entscheidungsfindung durch Konsens in der Versammlung, 3. die Ausübung der Autorität als unentgeltlicher Dienst, 4. die kollektive Arbeit als Aktivität zur Erhaltung der gemeinschaftlichen Strukturen 5. die Riten und Zeremonien als Ausdruck der kommunalen Spende.

Mutter Erde und Territorium

„In der Variante der Tlahuitoltepec (in der Sprache Mixe)“, sagt uns Laura Carlsen7, „wird die Gemeinschaft als etwas Physisches beschrieben mit den Wörtern Najx (Erde) und Kajp (Volk). Najx, die Erde, macht die Existenz von Kajp, dem Volk, möglich, aber das Volk, Kajp, gibt der Erde,Najx, einen Sinn.“ Die Gemeinschaft ist der Ort, an dem die Beziehung zwischen der Erde und dem Volk stattfindet, der Raum des Austausches zwischen einem Volk und seiner sogenannten natürlichen Umgebung. Die Welt wird als lebendige Einheit wahrgenommen, die den Menschen grosszügig mit Nahrung und Medizinalpflanzen versorgt und gegenüber welcher der Mensch immer in der Schuld sein wird. Der Mensch ist der Göttin Erde etwas schuldig für die Nahrung, die er konsumiert: „Die Göttin Nacawé sagt den Menschen ausdrücklich, dass der Mais und die Süsskartoffel ihr gehören und dass sie diese den Menschen nur als Nahrung leiht.“8 Von diesem Standpunkt aus erhält das Opfer an die Mutter Erde im Verlauf der landwirtschaftlichen Riten den Sinn des Zurückgebens, eines Gegengeschenks. Das Territorium wird wahrgenommen als Raum, in dem sich das soziale Leben erweitert auf seine Umgebung verwurzeln und einfügen kann. Diese Auffassung von Territorium geht auf ursprüngliche Gedanken zurück: „Das Territorium ist unser Lebensraum, die Sterne, die wir nachts sehen, die Hitze und die Kälte, das Wasser, der Sand, die Kiesel und der Wald, unsere Lebensweise, unsere Art zu arbeiten, unsere Musik, unsere Sprechweise, das was ganz verschieden ist von der Erde, das ist der Lebensort eines Volkes.“
Wir finden diese ritualisierte Beziehung zur Umwelt, basierend auf einem respektvollen Umgang mit der Erde, den Tieren und Pflanzen, die sie bewohnen, sogar im Inneren der Gemeinschaft als formalisierte Beziehung zwischen den Menschen.Die Gemeinschaft ist regiert durch die Norm oder das normierende Recht, das wir auch als traditionelles Gesetz bezeichnen. Die indigene Gemeinschaft beruht hauptsächlich auf dem Recht, im ursprünglichen Sinne, auf einer Ethik, in der jedes Mitglied als Subjekt angesehen wird, um so in ein Verhältnis von Subjekt zu Subjekt mit den anderen Mitgliedern der Kollektivität zu treten.

  1. PRI: Partei der Institutionellen Revolution.
  2. Ende der 1980er Jahre und vorangetrieben von Salinas de Cortari, Präsindent der Republik.
  3. Unterzeichnung eines Handelsabkommens zwischen Mexiko, USA und Kanada 1992.
  4. VOCAL: Stimme Oaxacas zum Aufbau von Autonomie und Freiheit.
  5. Löwy, Michael: Rédemption et utopie. Le judaïsme libertaire en Europe centrale, Editions du Sandre, Paris 2009.
  6. Maldonado Alvarado, Benjamin: La communalidad como una perspectiva antropológica india, introducción al libro de Juan José Rendón Monzón, La communalidad. Modo de vida en los pueblos indios, Conaculta, Mexico 2003.
  7. Carlsen, Laura: Autonomía indígena y usos y costumbres: la innovación de la tradición.
  8. Zingg, Robert M.: Los Huicholes. Un tribu de artistas, trad. Celia Paschero, vol. 2, Mexico INI, 1982, zitiert durch Alfredo López-Austin, in: Les Paradis de brume. Mythes et pensée religieuse des anciens Mexicains, trad, Carmen Val Julián, Paris, Maisonneuve et Larose, 1997.