MIGRATION UND SOLIDARITÄT: Winterreise nach Como

von Sandra Modica und Michael Rössler, 21.01.2017, Veröffentlicht in Archipel 255

Eine kleine Delegation des «Freundeskreises Cornelius Koch», des C.E.D.R.I. und des Europäischen BürgerInnenforums machte sich im November 2016 ins Tessin und nach Norditalien auf, um die Menschen zu besuchen, die sich für die Flüchtlinge hier, vor den Toren der Festung Europa, einsetzen1.

Wir haben Pfarrer Don Giusto de la Valle in der Kirchgemeinde San Martino im Stadtteil Rebbio von Como wieder getroffen. Er ist seit fünf Jahren mit seiner Initiative «Progetto Accoglienza Rebbio» eine Schlüsselperson beim Empfang der Schutzsuchenden. Er wird von Desirée, einer freiwilligen Helferin der Kirchgemeinde, begleitet. Wir haben auch Lisa Bosia Mirra, Tessiner Kantonsrätin der Sozialistischen Partei (SP), wiedergesehen, dieses Mal in Lugano. Sie steht gerade unter Anklage. Am 1. September 2016 war sie von Grenzwächtern unter dem Verdacht der Begünstigung der illegalen Einreise von vier unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen angehalten worden. Im August hatte sie regelmässig die illegalen Rückweisungen und Abschiebungen an der Schweizer Grenze in Chiasso kritisiert, welche unbegleitete Minderjährige, Flüchtlinge mit UNHCR-Ausweis und solche Menschen betreffen, die schon Verwandte in der Schweiz haben. Wir fassen im Folgenden die Informationen zusammen, die wir in den Gesprächen gesammelt haben.
Schliessung der Schweizer Südgrenze
Como ist eine Stadt, die sich vor der Schweizer Grenze in Chiasso befindet. Sie ist der zwingende Durchgangsort für die zahlreichen Menschen, die Asyl in der Schweiz oder in weiter nördlich gelegenen Ländern erlangen wollen. Como wurde im Sommer 2016 stark mediatisiert, nachdem sich mehrere hundert Migrant_in-nen, die an der verriegelten Schweizer Grenze abgewiesen worden waren, im Park unterhalb des Bahnhofs San Giovanni stauten. Zuvor soll es eine Absprache zwischen dem italienischen und dem schweizerischen Zoll gegeben haben, wonach alle zwei Wochen hundert Personen in die Schweiz eingelassen wurden. Doch Anfang Juli, von einem Tag auf den anderen, als die meisten Flüchtlinge eintrafen, schloss die Schweiz ihre Südgrenze. Die Geflüchteten wurden zu Opfern der Dublin-Regelungen.2 Seit Anfang August fanden dann die systematischen Rückweisungen statt. Die Behörden in Chiasso nahmen plötzlich keine Asylgesuche mehr entgegen, auch nicht von Minderjährigen, selbst nicht von denjenigen mit Verwandten in der Schweiz. Amnesty International klagt an: «Eine Praxis von systematischen Rückweisungen ist nicht kompatibel mit der speziellen Verletzlichkeit von asylsuchenden Kindern.» Freiwillige der von Lisa Bosia gegründeten Tessiner Initiative «Firdaus» brachten regelmässig Essen für die Flüchtlinge in den Park von Como. Ende August verboten die Behörden diese Hilfstätigkeit. Stattdessen haben das Rote Kreuz und Caritas ein Mandat bekommen, um die Flüchtlinge in einem neu eingerichteten Transitlager zu betreuen. Das improvisierte Campieren im Park und im Bahnhof fand zwangsweise ein Ende. Ein im Park stationierter Polizeibus achtet darauf, dass sich niemand mehr installiert. Die jungen italienischen Helfer_innen vom Sommer wurden mit einem «Foglio di via» belegt, einem Platzverweis mit der Auflage, bestimmte Bezirke nicht mehr betreten zu dürfen. Die Medien sind inzwi-schen völlig absent, wodurch der Eindruck entstanden ist, dass das Problem der Flüchtlingsnot geregelt sei. Doch die Realität ist eine ganz andere.
Das Containerlager
Das Transitlager in Como, welches im September 2016 eröffnet wurde, ist mit 300 bis 350 Geflüchteten belegt, darunter über 200 unbegleitete Minderjährige, die weder einen Asylantrag in Italien gestellt haben (aber ihre Fingerabdrücke abgeben mussten), noch an eine adäquate Institution für besonders verletzliche Personen weitergeleitet wurden. Die Jugendlichen sind zu acht in Blechcontainern von je 15 Quadratmetern mit je 4 Stockbetten untergebracht. Wer während 24 Stunden nicht zurückkommt, verliert seinen Platz. Das Rote Kreuz dirigiert das Lager mit strikter Kontrolle. Don Giusto bezeichnet es als ein «militarisiertes Lager». Die Erlaubnis für Drittpersonen, das Lager zu betreten, wird nur ganz selten erteilt und hängt vom Gutdünken des Präfekten ab. Anwält_innen, Journalist_innen und nichtstaatliche Organisationen, welche die Flüchtlinge über ihre Rechte aufklären könnten, haben keine Möglichkeit dazu. Sogar «Médecins Sans Frontières» müssen immer wieder neu um Erlaubnis fragen. Was dem Direktor der Caritas von Como widerfahren ist, illustriert die behördliche Willkür noch schärfer: Als dieser das Lager besuchte, verteilte er Flyer an die Insass_innen mit einer Adresse in der Stadt, wo sie während des Tages hingehen, sich aufwärmen und Tee trinken können. Aufgrund dieser menschlichen Regung wurde ihm die Besuchserlaubnis entzogen.
Alles scheint dafür bestimmt zu sein, die Jugendlichen zu isolieren und ihnen ihren Aufenthalt so beschwerlich wie nur möglich zu machen, damit sie von selber wieder verschwinden.
Nothilfe in San Martino
Die 300 Plätze des Rot-Kreuz-Lagers sind nicht ausreichend, um alle Flüchtlinge aufzunehmen. 50 bis 100 Personen bleiben ständig draussen. Ein Dutzend Freiwillige des «Progetto Accoglienza Rebbio» von Don Giusto sind jeden Abend unterwegs, um die Obdachlosen zu suchen, vor allem die minderjährigen, um sie in die Kirchgemeinde einzuladen, wo sie im Warmen schlafen und essen können. Aber nicht alle kennen diese Möglichkeit. Vor kurzem wurde ein junger Somalier im Erfrierungszustand in ein Krankenhaus eingeliefert.
Don Giusto empfängt alle mit grosser Menschlichkeit und gibt ihnen ein Stück der Würde zurück, die ihnen von anderen genommen wurde. Oberhalb des Eingangstors von San Martino sind die drei Symbole der monotheistischen Weltreligionen angebracht und täglich kommen hier um die fünfzig Jugendliche von ganz verschiedenen Religionen an. Im Sommer waren es noch viel mehr, insgesamt über 1‘000. Jeden Tag wird ein Mittagessen um 12.30 Uhr ausgegeben. Während der restlichen Zeit müssen die Säle für die lokalen Aktivitäten frei bleiben. Don Giusto hat eine ganze Schar von freiwilligen Helfer_innen, welche die Jugendlichen informieren, Italienischkurse geben und kochen. Doch das Engagement des Pfarrers wird nicht von allen goutiert. Von den 338 Kirchgemeinden im Bezirk Como, nehmen nur 15 Gemeinden Flüchtlinge auf. Bischof Oscar Cantoni, der vor kurzem ernannt wurde, bleibt bisher diskret. Zahlreiche Gläubige sind gegen den Empfang von Geflüchteten und demonstrieren ihren Unwillen. Sie schicken ihre Kinder nicht mehr zu den kirchlichen Aktivitäten und fühlen sich von ihrem Pfarrer vernachlässigt. Die Stadtbehörden überwachen die Arbeit des Priesters, die Polizei kommt regelmässig vorbei und amtliche Schikanen sind häufig.
Die Ankommenden
Die Nationalität der ankommenden Flüchtlinge ändert sich manchmal monatsweise. Waren es im Sommer hauptsächlich Menschen aus Eritrea und Äthiopien, dazu einige aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, so kommen jetzt im November auch Afrikaner_innen aus Guinea und Nigeria, aber auch mehrere Palästinenser_innen. Die meisten Migrant_innen haben das Mittelmeer unter grossen Strapazen überquert; viele von ihnen wurden Opfer oder Zeug_innen von massiver Gewalt. Besonders hart sind Frauen betroffen. In Libyen scheinen kollektive Vergewaltigungen und Zwangsprostitution von schwarzafrikanischen Frauen gang und gäbe zu sein. Viele von ihnen werden schwanger. Zudem hat Pietro Bartolo, ein Arzt in Lampedusa, eine grosse Anzahl von verdächtigen Narben bei den Neuankömmlingen festgestellt, die darauf hinweisen, dass ein illegaler Organhandel zwischen Afrika und Europa im Gange sei.
In den Durchgangslagern in Süditalien werden die Flüchtlinge systematisch registriert. Vor einiger Zeit konnten sie noch weiterreisen, ohne ihre Fingerabdrücke abgeben zu müssen. So hatten sie wenigstens die Chance, in einem Land ihrer Wahl einen Asylantrag zu stellen. Inzwischen hat Italien auf Druck der nördlichen Staaten diese Praxis geändert. Die Flüchtlinge müssen direkt bei ihrer Ankunft ihre Fingerdrücke abgeben. Weigern sie sich, werden sie teilweise unter Folter dazu gezwungen, wie kürzlich Amnesty International in einem Bericht bewiesen hat.
Für all diejenigen, die solche Qualen oder auch nur einen Bruchteil davon durchgemacht haben, ist eine Rückkehr undenkbar. Deshalb sollten alle, so meint Don Giusto, einen humanitären Aufenthaltsstatus bekommen. Die Aufnahmekapazitäten müssten vergrössert und betreute Wohngemeinschaften für die Minderjährigen eingerichtet werden.
Endstation Como
Die meisten Migrant_innen, die in Como angelangt sind, wollen jedoch weiter nach Deutschland, manchmal auch nach Frankreich und Grossbritannien. Einige wünschen, in der Schweiz Aufnahme zu finden. Viele haben bereits Verwandte in einem dieser Länder. Die Schweiz verwehrt aber systematisch den Zugang und die Durchreise für die Migrant_in-nen, die über Italien kommen. Und diejenigen, die in der Schweiz aufgegriffen werden, schickt die Grenzwache nach Italien zurück. Dies geschieht im Namen des Dublin-Abkommens. Von den offiziellen 2‘500 Dublin-Ausschaffungen nach Italien im Jahr 2016 aus den Unterzeichnerstaaten gehen die Hälfte auf das Konto der Schweiz. Diese Tatsache betrifft auch die unbegleiteten Minderjährigen. Dabei handelt es sich um eine schwerwiegende Verletzung der UNO- Kinderrechtskonvention. Sogar das Abkommen Dublin III 3 sieht vor, dass Minderjährige, die Verwandte in der Schweiz haben, aufgenommen werden müssen.
Kleine Siege für Minderjährige
Die Stiftung «Posti liberi» im Tessin kämpft dafür, dass die unbegleiteten Minderjährigen in Como, die Verwandte in der Schweiz haben, Einlass bekommen und dass sie mit ihren Familien zusammengeführt werden. Seit diesem Sommer konnte die Initiative zwanzig (!) Anträge durchbringen. Die Arbeit, um alle Dokumente zu sammeln und ein überzeugendes Dossier zu erstellen, ist enorm und wird ehrenamtlich geleistet. Zuerst muss die Identität des Jugendlichen bewiesen werden, dann die familiäre Bindung mit den bereits in der Schweiz lebenden Personen und folglich die Identität dieser Personen… und dies oft ohne amtliche Zeugnisse wie Geburtsurkunde oder Familienbüchlein. DNA-Tests kämen zu teuer.
Jede gelungene legale Einreise ist ein Sieg, der hart erstritten wird, wie uns Désirée, die Assistentin von Don Giusto, berichtet. Vor ein paar Wochen hat Désirée zehn Jugendliche, deren Dossier fertiggestellt war, an die Grenze von Chiasso begleitet. Die Anwält_innen von Posti liberi erwarten sie auf der Schweizer Seite. Die Jugendlichen müssen dann am Zoll auf italienisch sagen: «Ich möchte politisches Asyl in der Schweiz beantragen.» Sobald sie diesen Satz nicht auf italienisch vorbringen oder wenn sie auch nur ein Wort vergessen, finden sie bei den Grenzwächtern kein Gehör. Désirée und die Schar der Jungen standen einem Block von grimmigen Zöllnern gegenüber, wobei die Delegierte von Don Giusto ständig wiederholte, dass die Schweizer Anwält_innen bereits warten würden, dass die Grenzwächter die Jugendlichen passieren lassen sollten, dass sie beweisen könne, dass die Jungen Verwandte in der Schweiz hätten und somit nach Dublin III das Recht auf Familienzusammenführung. Im Angesicht der Entschlossenheit dieser mutigen Frau und der Präsenz der Jurist_innen gaben die Zöllner schlussendlich nach. Die Minderjährigen hätten ohne die Begleitung nie einreisen können; allein waren sie zuvor schon mehrfach gescheitert. Eine Stunde später ging Désirée noch einmal mit einem Minderjährigen an die Grenze, der seinen Antrag folgendermassen stellte: «Voglio chiedere asilo politico.» Der Unglückliche hatte vergessen, «in Svizzera» zu sagen und wurde deshalb abgewiesen. Désirée musste sich noch einmal mehrere Tage bemühen, um zu erreichen, dass der Jugendliche seinen Asylantrag stellen konnte.
Ein Geschäft für die Mafia
Der allergrösste Teil der Migrant_innen schafft es nicht, in die Schweiz einzureisen oder sich noch weiter in den Norden durchzuschlagen. Die Flüchtlinge verlassen also früher oder später das Transitlager, entweder um in ein staatliches, zentral geführtes Lager für Asylbewerber_innen zu gehen (mit viel zu wenigen Plätzen) oder um in Hotels, ehemaligen Schulen etc. unter der Verantwortlichkeit des regionalen Präfekten Unterkunft zu finden. In beiden Fällen müssen sie einen Asylantrag in Italien stellen. Wer 72 Stunden fehlt, verliert seinen Platz. Viele, die in die Schweiz wollen, verlieren diese Stunden, werden an der Grenze zurückgewiesen und landen auf der Strasse.
Der Staat bezahlt 45 Euro pro Flüchtling und Tag an die Organisationen, welche die Empfangsstrukturen verwalten. Ein neuer Markt für schnelles Geld hat sich aufgetan. Die Mafia eröffnet im ganzen Land Aufnahmestrukturen für mehrere hundert Personen und kassiert die Subventionen. Die Qualität des Empfangs wird von keinerlei Instanz überprüft, dementsprechend miserabel gestaltet er sich auch: oft nur ein Essen pro Tag, verschimmelte Matratzen etc. Die Mafia verdient auf verschiedenste Art an den Migrant_innen rund eine Milliarde Euro pro Jahr.
Zusammenarbeit
Angesichts der desolaten Situation gibt es jedoch auch Lichtblicke. Don Giusto berichtet uns, dass es in Como ein «Osservatorio legale» mit 20 Anwält_innen gibt, die gratis für Migrant_innen arbeiten. Sie kooperieren mit den Jurist_innen der «posti liberi» im Tessin. Ebenfalls in Como findet ein regelmässiges Zusammentreffen von örtlichen Vertreter_innen der Hilfswerke, der Gemeindebehörden und der Kirchen statt. Eine Koordination mit der Schweiz fehlt hier aber.
Nach der riesigen Präsenz der Schweizer Medien im Sommer 2016 ist es still geworden in Como. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, dass weiter berichtet würde. Doch auch alle aufgeschlossenen Bürger_innen können etwas beitragen, indem sie die engagierten Initiativen vor Ort besuchen und unterstützen. Vielleicht sehen Sie als Leser_in dieser Zeitung eine Möglichkeit, sich bald einmal auf eine Reise in den Süden zu begeben.
Sandra Modica und
Michael Rössler

  1. Eine erste Reise fand im August 2016 statt (siehe Archipel Nr. 252, Oktober 2016).
  2. Das Abkommen von Dublin der EU und der EFTA, das im Jahr 2008 auch von der Schweiz unterzeichnet wurde, sieht vor, dass ein Flüchtling im Ersteintrittsland den Asylantrag stellen muss, in diesem Fall in Italien. Wenn er trotzdem in ein anderes Land weiterreist und erst dort seinen Asylantrag stellt, kann er nach Italien ausgewiesen werden.
    Kontakt und Informationen unter: www.firdaus.org, www.azionepostiliberi.ch
  3. Im Jahr 2014 trat eine zusätzliche Regelung des Dublin-Abkommens in Kraft, genannt Dublin III. Dieser Zusatz erleichtert die Familienzusammenführung in klar definierten Fällen, u.a. bei Minderjährigen.