POLEN - LAUTSPRECHER: Anti-Frontex-Tagein Warschau

von Géraud P.*, 22.09.2015, Veröffentlicht in Archipel 240

Am 21. Mai 2015 haben sich zahlreiche anti-rassistische Gruppen aus verschiedenen europäischen Ländern in Warschau versammelt, um gegen das zehnjährige Bestehen von Frontex zu demonstrieren.

An diesem Tag kam die Crème de la Crème des europäischen Rassismus nach Warschau, um den zehnten Jahrestag der Frontex-Gründung zu feiern. Die einflussreiche Meta-Organisation, die den Reichtum der Festung Europa bewacht, ist allgemein wenig bekannt. Als Hybrid aus Grenzpolizei und Geheimdienst, welches eine aggressive Antimigrationspolitik fördert, hielt sich Frontex bis vor kurzem gerne im Hintergrund. Frontex ist ein Exekutivorgan der europäischen (Anti)Migrationspolitik und die Organisation berechtigt, selbständig Entscheidungen über die Aussenpolitik der EU zu treffen. Sie verfügt über ein jährlich steigendes Budget, das sie ohne offizielle Abrechnung verwalten kann. Frontex finanziert davon futuristische Projekte, die an dystopische Szenarien erinnern, wie zum Beispiel ein automatisiertes Landdrohnensystem, bekannt als TALOS, das mit Hilfe vom Warschauer Polytechnikum und vieler militärischer Unternehmen realisiert wurde. Es ist Frontex möglich, in bestimmtem Rahmen eine eigene Aussenpolitik im Bereich Migration zu Weissrussland, Libyen, Tunesien, Algerien zu betreiben, als auch Repressionen gegen Flüchtlinge in sicheren Pufferzonen zu organisieren und zu sponsern. So wird die Grenze von Europa immer weiter vom «alten Kontinent» weggerückt und die Auswirkungen dieser Politik bleiben Europäer_innen verborgen.
Verstärkte Barrieren
Die plündernde neokoloniale Wirtschaft, durch Waffenhandel angefeuerte Konflikte, Umweltkatastrophen, die in den Kosten für den europäischen Wohlstand inbegriffen sind, und imperialistische Invasionen zwingen die Flüchtlinge dazu, ihre Heimatländer zu verlassen. Sie haben oft keine Wahl ausser der Flucht ins «europäische Paradies». Zunehmender Hunger, Armut und Furcht bringen sie dazu, Wüsten zu Fuss und Ozeane mit Booten zu überqueren, sich an Flugzeugrädern festzuklammern oder sich der organisierten Schmuggler-Mafia zu unterwerfen. Durch die Aktivitäten von Frontex werden diese Wege zunehmend verlängert und weitere Hindernisse geschaffen. Ohne dass die europäische Hegemonialstellung und ihre neokoloniale Politik gebrochen werden, wird die Entschlossenheit dieser Menschen, auf die sich Familien und manchmal ganze Dörfer stützen, nicht verringert werden. Gewöhnlich passieren die Tragödien ausser Sichtweite der Europäer_innen, aber ihre Zahl nahm so stark zu (Arabischer Frühling, Massaker in Afghanistan und Syrien und nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine), dass es schwer wurde, sie weiterhin zu ignorieren. Zahlreiche Ertrunkene vor der italienischen Küste, Sturmangriffe an der Grenze zu Ceuta und Melilla, Tote auf Minenfeldern am Evros und auf Stacheldrähten der bulgarischen Grenze sind Beispiele von Tragödien, die immer häufiger werden, wenn sich gesellschaftliche Krisen in den Drittstaaten verschärfen. Diese Krisen sind oft ein Resultat der europäischen Aussenpolitik, wirtschaftlicher Kolonisierung oder militärischer Interventionen.
Inhumane Zustände
In den letzten Jahren wurde Frontex durch diese Ereignisse und durch zunehmende Kritik dazu veranlasst, seine Öffentlichkeitsarbeit zu verändern. So versuchen sie sich als humanitäre Organisation darzustellen (welche die von sich selbst erschaffenen Probleme löst) oder die gegen Schmuggler kämpft (denen sie Arbeitsmöglichkeiten gibt) und übertrifft sich dabei selbst an Heuchelei. Die Tätigkeit dieser Organisation verschärft in Wahrheit vielmehr die humanitäre Krise – während der letzten Seeoperation verbat Frontex den italienischen Crews Flüchtlinge ausserhalb ihres Territorialgewässers zu retten. Frontex arbeitet auch mit staatlich organisierter Kriminalität in Libyen und Marokko zusammen. Für diejenigen, die die lange und gefährliche Reise nach Europa überleben, sind die Probleme damit nicht zu Ende, sie ändern nur ihren Charakter. Migrant_innen ohne Papiere werden zum Ziel der innerstaatlichen Antimigrationspolitik. Sie werden aber nicht völlig aus der Gesellschaftsordnung ausgeschlossen – es gibt Platz für sie: sie gehen einer Sklavenarbeit nach, sie werden Opfer von Polizeigewalt und werden in Abschiebeknästen oder Isolationslagern weggesperrt. Vom rassistischen Modell der Politik zeugen u.a. die Bedingungen, unter denen Kriegsflüchtlinge leben. Sogar humanitäre Minimalstandards, die von den EU-Mitgliedstaaten anerkannt wurden, werden nicht erfüllt. Aufenthaltslegalisierungsverfahren sind eine bürokratische Qual. Meist enden sie in Kriminalisierung, denn die Vorschriften sind so konstruiert, dass die Voraussetzungen unerreichbar bleiben. Dieser ganze Repressionsapparat dient den ökonomischen Interessen der EU. Und das obwohl die «grossartigen« Städte Europas vor allem aus der Sklavenarbeit der Migrant_innen entstanden sind, deren gesetzliche Entrechtung wiederum die Machtposition der europäischen Arbeitgeber stärkt. Die Büros von Geschäftsführer_innen werden von den unsichtbaren Händen der Migrant_innen aufgeräumt. Auch die Position der lokalen Arbeiter_innen wird dadurch geschwächt, dass die Lohnkosten immer weiter gesenkt werden. Diese Maschine wird durch den alltäglichem Rassismus der Neofaschisten geölt, die ihre Sündenbockideologie in Pogromen, Anzeigen oder bei der Arbeit in Uniform in die Tat umsetzen. Diese dramatische Situation bleibt nicht ohne Antwort: In Isolationslagern treten Menschen in Hungerstreik und revoltieren, Abschiebungen werden blockiert. Migrant_innen wissen, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können, und organisieren Protestmärsche, sie besetzen öffentliche Räume und Gebäude, sie wehren sich gegen Zwangsräumungen und stellen sich Neofaschist_in-nen entgegen.
Unsere Antwort
Wir sagen «NEIN» zu der Politik des Eurorassismus! Jeder neuen Repression werden wir uns als Schwestern und Brüder in Formen der antikapitalistischen Basisorganisation von unten entgegenstellen. So wie im Fall von Mos Maiorum (die grösste Menschenjagd in Europa nach dem 2. Weltkrieg), als viele Warn- und Solidaritätsaktionen stattfanden. Wir verweigerten, den Pass zu zeigen, wodurch viele Migrant_innen dem Netz von Frontex entkommen konnten. Trotzdem wurden 19 000 Menschen festgenommen, was für uns nur einen weiteren Grund darstellt, unseren Widerstand zu verstärken. Auch hier in Warschau, wo Frontex seinen Hauptsitz hat. Die letzte Welle von Hungerstreiks wurde brutal unterdrückt, sie erlaubte aber, Kontakte zwischen Migrant_in-nen in Isolationslagern und Unterstützungsgruppen zu knüpfen. Deswegen wurden Informationen über die Streiks auch öffentlich. Eine der Sprecher_innen dieses Streiks, Ekaterina Lemonjava, veröffentlicht demnächst auch ein Buch über ihre Erfahrungen mit Hilfe einer Warschauer No-Border-Gruppe.
Seit vielen Jahren werden in Warschau die Anti-Frontex-Tage organisiert und dieses Mal waren wir mit den 450 Personen aus ganz Europa mehr denn je. Es ist Zeit für einen neuen Aufschwung und dass wir unsere Stimmen gemeinsam stärken.

* Géraud P. ist Aktivist für die Rechte von Migrant_innen. Nachdem er aus politischen und sozialen Gründen sein Heimatland verlassen musste, kam er nach fünf Jahren, einige davon in Marokko, im August 2013 in Europa an. Einmal in Deutschland gründete er CISPM/Berlin und Droits de Migrant-e-s et du citoyen, zwei Gruppen, die sich für Bewegungsfreiheit an den Grenzen von Marokko einsetzen. Er hat die Anti-Frontex Tage in Berlin (19. und 22. Mai 2015) mitorganisiert, und schreibt zurzeit ein Buch mit dem Titel «Der Krieg gegen Migrant_innen».