ESTERN - HEUTE - MORGEN: Eine kritische Geschichte der Biologie

von Bertrand Louart* Radio Zinzine, 05.11.2013, Veröffentlicht in Archipel 219

Eine weitere Folge unserer Retrospektive auf ein untypisches Werk des Biologie-
historikers und Philosophen André Pichot. Teil 4

Um der irreführenden Betrachtungsweise von Lebewesen als Maschine zu entkommen ist es also notwendig, bis vor den Punkt zurückzugehen, an dem der Fehler entstanden ist, um aus der Sackgasse herauszukommen und eine andere, fruchtbarere Richtung einzuschlagen. Dafür ist es aber nicht notwendig auf die Naturtheologie zurückzugreifen, gegen die Darwin opponierte, sondern eher auf andere Vorstellungen von Leben die es im 18. Jahrhundert reichlich gab.

Es besteht kein Zweifel, dass es René Descartes (1596-1650) war, der die These vom Lebewesen als Maschine verbreitet hat1. Aber es handelt sich für ihn tatsächlich nur um eine vorläufige Hypothese die er vorlegte um die Physiologie im Erwachsenenstadium zu erklären. Dennoch, in der Weiterführung seiner strikt materialistischen Herangehensweise hat Déscartes auch eine regelrecht mechanistische Embryologie präsentiert. In seinen Ausführungen spielen nur die Materie und deren Bewegungen eine Rolle. Sie ist im regelrechten Sinne «epigenetisch»: der Körper entsteht nach und nach mit Hilfe der Bewegung von Flüssigkeiten, allen voran des Blutes, sowie durch Herausfiltern und Einlagern von Materie. Descartes beschreibt einen Strudel von Materie in dem sich der Körper bildet, wie wenn das rieselnde Blut sich immer mehr kanalisieren und organisieren würde. Dieses Zirkulieren von Flüssigkeiten lässt die Gefäße entstehen, die wiederum diese Zirkulation kanalisieren und zusammen filtern diese Gefäße die Flüssigkeiten, um so die Organe durch Ablagerung von Materie entstehen zu lassen. In dem sie sich verfestigt gibt die Materie den Organen ihre Form. Damit diese wiederum die Zirkulation der Flüssigkeiten verbessern und sie in die verschiedenen Richtungen kanalisieren, bis der ausgewachsene Organismus fertig ist.2
Descartes gelingt es jedoch nicht seine Embryologie mit seiner Physiologie in Einklang zu bringen, er hat diese allzu gegensätzlich ausgeführt. Einzig seine These vom Tier als Maschine wird sich halten, denn sie ist vereinbar mit einer Art von «Höherem Mechanikerwesen», seine Embryologie gerät in Vergessenheit. Die Vitalisten werden andere Theorien entwickeln in denen sie sich dem Einbezug eines göttlichen Eingreifens verweigern. Sie bevorzugen die Idee der autonomen Aktivität eines Lebewesens in Form einer «vitalen Kraft», einer physischen Kraft, vergleichbar mit der allgemeinen Schwerkraft, die jedoch nur den Lebewesen zu eigen ist. «Sicherlich erklärt das Prinzip der vitalen Kraft nichts Wesentliches, es weist uns lediglich darauf hin, dass wir nicht alles wissen, während diese ganze mechanistische Sichtweise dazu dient, diese Tatsache zu vergessen.»3

Die Biologie als selbständige Wissenschaft

Im Jahre 1802 erschafft Jean-Baptiste Lamarck die Biologie als selbstständige Wissenschaft und unterscheidet sie damit nicht nur von der Physik und Chemie, sondern auch von der Artenlehre, der Anatomie, der Physiologie und der Medizin. Diese Biologie hat zum Ziel, den gemeinsamen Charakter von Tieren und Pflanzen zu studieren. Dieser Charakter unterscheidet diese grundsätzlich von unbelebten Objekten, mit denen sich die Physik beschäftigt. Für ihn besteht die Eigenheit eines Lebewesens im Vergleich zu unbelebten Objekten darin, dass die Dinge eine gewisse Ordnung haben, dass ihre Materie auf eine ganz gewisse, nur ihnen eigene Weise organisiert ist. Er stellt sich damit in Opposition zu den Vitalisten, denn für ihn ist die «vitale Kraft» eine Konsequenz dieser Ordnung – die seine Biologie zu ergründen und zu verstehen sucht – und nicht das, was auf unbekannte und rätselhafte Weise diese Ordnung schafft.
Anfang des 19.Jahrhunderts nimmt Lamarck die Embryologie von Descartes wieder auf und ergänzt sie mit den physiologischen Erkenntnissen des 18. Jahrhunderts. Dadurch erarbeitet er eine Theorie der lebendigen Körper, welche die Ungereimtheiten bezüglich der Lebewesen als Maschine, wie bei Descartes sowie der Vitalisten seiner Zeit, überwindet. Für Lamarck ist der ausgewachsene Zustand eines Organismus nicht starr, sondern immer noch angetrieben durch die Dynamik der Flüssigkeiten welche Descartes bereits in der embryonalen Entwicklung beschrieben hat. Diese Dynamik verlangsamt sich zwar und wird starrer, aber sie setzt sich fort und entwickelt sich auch im Laufe der Generationen.4
Lamarck ist somit der Erste der eine Theorie des Lebewesens vorstellt, eine physikalische Theorie, die dessen Organisation und dessen Phänomene bei gründlicher Beobachtung erklärt. Die autonome Aktivität, die den Lebewesen eigen ist, hat außerdem als logische Konsequenz die Evolution der Arten zur Folge, die er als zwei generelle Tendenzen versteht: Die Erhöhung der Komplexität eines Lebewesens durch den Einfluss der inneren Dynamik und die Diversifizierung der Erscheinungsformen durch den Einfluss äußerer Umstände.5 Pichot ist der Meinung dass man wieder von den theoretischen Ansätzen Lamarcks ausgehen sollte:
«Tatsächlich findet man bei Lamarck zum ersten Mal ein Verständnis des Lebens welches dessen Einzigartigkeit im Vergleich zum Unbelebten anerkennt, ohne deswegen dieses den physikalischen Gesetzen zuwider zu laufen zu lassen. Man hätte erwarten können dass eine Biologie, die sich wissenschaftlich, materialistisch und experimentell nennen will, sich nach diesem Konzept entwickeln würde. Die Geschichte wollte es aus verschiedenen Gründen jedoch nicht so.»6
Es ist natürlich notwendig die Theorien Lamarcks zu vervollständigen und sie um inzwischen gewonnene Erkenntnisse zu ergänzen, wie es Pichot getan hat:7
«Eine Schlussfolgerung aus diesem Werk ist, dass es sich lediglich darum handelt einige mögliche Wege aufzuzeigen wie die Biologie zu einer Wissenschaft werden kann die das Leben studiert und nicht nur das Material aus dem die Lebewesen gemacht sind. Es gibt mittlerweile mathematische und physikalische Werkzeuge die dies ermöglichen. Im Gegensatz dazu ist die Geschichte der Biologie noch nicht zu Ende geschrieben, was die Stagnation in der Theorie bei Molekularbiologie vermuten lässt.»
Pichot ist allerdings nicht sehr optimistisch dass er es schafft, die Gemeinschaft der Biologen hinter seiner Sichtweise zu vereinigen. Am Ende seiner Werke zitiert er eine seiner ironischen Bemerkungen: «wenn eine Theorie, eine Doktrin oder eine Praxis Tausenden von Wissenschaftlern ein Auskommen bietet und einfachen Kriterien genügt, die bürokratisch, d.h. durch Artikel in Fachzeitschriften usw. belegbar sind, sind diese ohne (kritische Hinter-fragung)mögliche Infragestellung als wissenschaftlich zu bezeichnen.»8
Tatsächlich ist von der Gemeinschaft der Wissenschaftler nicht mehr viel zu erwarten, sie ist zu verknöchert geworden und korrumpiert. Verknöchert durch den Konformismus was die «Dogmen» betrifft. Gemeint sind hier die vorherrschenden Theorien die den Rahmen für jegliche Forschung festlegen. Verknöchert geworden durch die Überspezialisierung und die Faszination für digitale Modelle, wobei die Computersimulationen das Nachdenken und Begreifen der Wirklichkeit in seiner Verschiedenheit und Einzigartigkeit ersetzt. Vor allem ist sie verdorben durch die Faszination der Macht, die Wissen bedeutet. Somit arbeiten die Wissenschaftler völlig losgelöst von den Bedürfnissen des Rests der Gesellschaft an der Enteignung des Individuums zugunsten der grossen Körperschaften wie Staatsmacht, Militär, Großkonzerne. Wissenschaft als einfache Form von Kenntnis hat sich zu einer Technologie neuer Herrschaftsformen gemausert.9
Pichot geht in seinen Schriften nicht so weit, macht sich aber in Bezug auf den Scharfblick seiner Kollegen keine Illusionen:
«Die scherzhafte Bemerkung von René Thom ist aktueller denn je: ‚In der Biologie könnte es nötig sein nachzudenken.‘ Sogar eher zweimal als nur einmal: darüber was man macht und einmal darüber was das für Konsequenzen haben kann.»10
Mangels theoretischer Reflexion in der Biologie besteht keinerlei Aussicht auf eine Synthese oder eine Übersicht. Aber wer von den heutigen Wissenschaftlern macht sich noch einen Kopf über Fragen der Naturphilosophie?

  1. Vor ihm, in der Antike, unterstützte der griechische Arzt Galien (ca. 131-201) ähnliche Ideen. Ceuvres médicales choisies, éd. Gallimard
  2. A. Pichot, Histoire de la notion de vie, éd. Gallimard
  3. Henri Bergson, L’ évolution créatrice, 1907; éd. PUF, 2006
  4. A.Pichot, Histoire de la notion de vie, éd. Gallimard
  5. J.-B. Lamarck, Philosophie zoologique, 1809; éd. Flammarion
  6. A. Pichot, Histoire de la notion de la vie, éd. Gallimard
  7. A. Pichot, Éléments pour une théorie de la biologie, éd. Maloine, 1980
  8. A. Pichot, Histoire de la notion de gène, 1999
  9. Als Soziale Gruppe (die Wissenschaftler) haben sie trotz ihrer ganzen Wissenschaft nicht mehr Durchblick geschaffen als andere soziale Gruppen. Man könnte sogar sagen, dass sie mehr als andere soziale Gruppen das Gegenteil von Durchblick darstellen, nämlich Verschleierung. Dies ganz einfach weil die Entwicklung der modernen Gesellschaft sie ins Zentrum der Macht befördert hat. Dieser Tatsache wollen sie sich nicht stellen und sagen sich von jeglicher Verantwortung für die politische Anwendung ihrer «absoluten Wahrheiten» los.
  10. A. Pichot in der Zeitung Le Monde von 1997