RUSSLAND: Kriegsverweigerer

von Alain Refalo, Colomiers, Frankreich, 18.05.2022, Veröffentlicht in Archipel 314

Anfang April wurde ein Aufruf* zur Unterstützung der Widerständigen in der russischen Armee veröffentlicht. Weil es sie gibt, auch wenn nicht viel über sie geredet wird. Zeugnisse berichten von Gehorsamsverweigerung und Desertion von Soldaten und Wehrpflichtigen, die sich auf einen schmutzigen Krieg einlassen mussten – noch einer mehr.

«Wir, ehemalige Deserteure, Widerständische gegen den Algerienkrieg und andere neuere Kriege, Wehrdienstverweigerer, Zivildienstleistende, Antimilitaristen, solidarisieren uns mit den Widerständischen, Wehrdienstverweigerern und Deserteuren der russischen Armee, die sich weigern, am Krieg in der Ukraine teilzunehmen. Sie müssen im Land ihrer Wahl als politische Flüchtlinge aufgenommen werden!» Als ehemaliger Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen (1985) habe ich diesen Appell unterschrieben und möchte dabei an den grossen russischen Schriftsteller Leo Tolstoi erinnern. Er hatte seinerzeit Widerstandskämpfer unterstützt, ohne jedoch direkt den Verweigerungsprozess zu fördern. Er kannte die Risiken dieser jungen Männer, die aus Gewissensgründen, im Namen ihrer philosophischen oder religiösen Überzeugungen, nicht Komplizen des Mordens sein wollten. In seinen Schriften wird Tolstoi jedoch nie aufhören, mit grösster Heftigkeit alle Mächte anzuprangern, die unter dem Vorwand, sich gegen äussere Feinde zu verteidigen, eine Armee unterhalten, die am häufigsten zur Unterdrückung innerer Rebellionsversuche eingesetzt wird. So ist für Tolstoi die Wehrpflicht zu einem unverzichtbaren Glied in der Machtkette geworden, die unterdrückt und erdrückt. «Der Militärdienst», schrieb Tolstoi im Jahr 1901, «ist weit davon entfernt, eine edle Funktion zu erfüllen, sondern er dient einer vollkommen niederträchtigen. Seine Mission ist es, Menschen durch die Androhung von Mord oder durch Mord in den ungerechten Bedingungen, in denen sie sich befinden, in Knechtschaft zu halten.»1 So wurde die Armee am häufigsten im zaristischen Russland aufgefordert einzugreifen, um Kundgebungen aufzulösen, Streiks zu brechen oder gewaltsam Steuern zu erheben. Tolstoi rebelliert gegen die Unterwerfung der Menschen unter den Staat durch den Militärdienst, weil dies das Opfer von allem bedeutet, was dem Menschen lieb und teuer sein kann. «Die Wehrpflicht», schrieb er, «von allen Völkern widerspruchslos, ohne Auflehnung, ja sogar mit Freude akzeptiert, ist ein schlagender Beweis für die Unmöglichkeit des sozialen Menschen, sich von der Gewalt zu befreien und den bestehenden Staat zu modifizieren.»2 Der Staat verlangt eine unfehlbare Disziplin. Und «Disziplin», sagt Tolstoi, «ist die Zerstörung des Geistes und der Freiheit des Menschen; sie kann kein anderes Ziel haben als die Begehung von Verbrechen, die ein Mensch in seinem normalen Zustand niemals begehen würde.»3 Er ist überzeugt, dass der Mann mit dem Anziehen der Militäruniform einen Teil seiner eigenen Menschlichkeit aufgibt. «Der Eintritt in den Militärdienst», schreibt er, «ist die Verneinung jeglicher Religion und Menschenwürde; es ist der freiwillige Eintritt in eine Sklaverei, die kein anderes Ziel als die Ermordung hat.»4Eine militärische Ausbildung zu erhalten, ist gleichbedeutend damit, «jedes menschliche Gewissen» zu verlieren, um «Gewaltwaffe» und «Mordwerkzeug» zu werden. So erscheint ihm der Militäreid, mit dem der Soldat seinen Vorgesetzten unter allen Umständen Gehorsam schwört, als unwürdig, weil das Gebot der Wahrung seiner Gewissensfreiheit keine Abweichung vertragen kann. Gegen die Schule des Tötens Hier sehen wir, dass mehr als hundert Jahre nach dem Tod von Tolstoi die Nachricht vom Krieg in der Ukraine seinen Worten eine beunruhigende Resonanz verleiht. Niemandem gelang es zu seiner Zeit und auch danach besser als ihm, die Unterwerfung von Völkern unter solch eine kriminelle Institution zu verurteilen. Die Massaker an Zivilist_inn_en, die heute von russischen Soldaten verübt werden, geben dem Autor von «Krieg und Frieden» einmal mehr Recht. Uniformierte, gefüttert mit Propaganda und Lügen, begehen auf Befehl oder aus eigener Initiative unsägliche Verbrechen und machen sich unbeschreiblicher Gräueltaten gegen eine Bevölkerung schuldig, von der sie nichts wissen. Es muss immer und immer wiederholt werden, dass alle Kriege die gleichen Schreckensszenen hervorrufen: Massaker, Misshandlungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Waffenhandel. Egal welche Armeen, egal welche Ursachen, egal welche Länder. Kriegsverweigerung ist die aus aller Vernunft und nach bestem Gewissen vollzogene Entscheidung, sich nicht an der Kriegsvorbereitung zu beteiligen, insbesondere die Verweigerung des Wehrdienstes, der Schule zum töten Lernen. In Anbetracht unserer Geschichte voller Kriege und Massaker bekräftige ich, dass die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen sicherlich die authentischste Handlung ist, die ein vernünftiger Mann oder eine vernünftige Frau in seinem oder ihrem Leben vollbringen kann, um zu zeigen, dass der Krieg nicht auf ihn oder sie zählen kann, dass der Frieden in Gerechtigkeit und Wahrheit einen echten Kampf darstellt, für den es sich lohnt, Risiken einzugehen. Heute liegt es an uns, diejenigen aktiv zu unterstützen, die sich der russischen Armee widersetzen. Als würdige Erben von Tolstois Denken bezeugen sie den Vorrang grundlegender menschlicher Werte über alle Staatsräson. Ihre Rolle ist jetzt von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, eine breitere Mobilisierung der russischen Gesellschaft gegen den kriminellen Autokraten Putin in Erwägung zu ziehen. Wir haben aus dem Zusammenbruch totalitärer Systeme gelernt, dass Dissidenten, auch wenn es anfangs nur wenige sind, Auslöser sein können für eine Volks- und Mehrheitsmobilisierung. Tausende russische Bürger_innen sitzen jetzt im Gefängnis, nur weil sie friedlich gegen den Krieg demonstriert haben. Ihr Mut, ebenso wie derjenige der russischen Kriegsverweigerer, ist für uns Verpflichtung. Unsere Unterstützung ist ihnen sicher. Alain Refalo, Lehrer und Autor, Colomiers, Frankreich

  • Aufruf initiiert von französischen Antimilitaristen, Wehrdienstverweigerern, Pazifist_inn_en, Militärgewerkschaftern, Totalverweigerern und Zivildienstleistenden der französischen Armee: refractairessolidaires@gmail.com
  1. Offiziersnotizbuch (1901)

  2. Über die Bedeutung der Verweigerung des Militärdienstes (1893)

  3. Zeitgenössische Sklaverei (1900)

  4. Wo ist der Ausgang? (1900), in: Die Strahlen der Morgenröte