SYRIEN: Zeugenbericht

von Irène Labeyrie, 19.11.2013, Veröffentlicht in Archipel 220

Irène Labeyrie ist französische Syrierin und lebt seit den 70er Jahren in Damaskus. Sie beschreibt den Vorabend der Revolution aus ihrer persönlichen Sicht. 2. Teil Seit zweieinhalb Jahren erreichen uns erschütternde Nachrichten aus Syrien. Nach übereinstimmenden Schätzungen gibt es bereits 100 000 Tote durch konventionelle Waffen, ebenso viele Verschwundene, ebenso viele Gefangene und nach den Zahlen des UNHCR zwei Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern, darunter 4150 Kinder ohne Begleitpersonen, 4,5 Millionen interne Flüchtlinge. Bombardierungen, chemische Waffen, Phosphor, Chlorgas, Ausradierung von ganzen Stadtvierteln… Am 21. August erlitten 3600 Menschen schwere Vergiftungen durch einen Gaseinsatz, wovon 355 starben (Ärzte ohne Grenzen). Diese Zahlen stammen von Mitte September 2013.
Die Leute sind in Massen auf die Straße gegangen, fröhlich sogar, um diese Missstände anzuprangern. Sie wollten nur Freiheit – Freiheit, die ohne den Sturz des Regimes nicht möglich ist. Eine irrsinnige Unterdrückung war die Folge, aber diese konnte die Leute nicht mehr kleinkriegen, im Gegenteil: Die Zeiten, wo man Kommunikation einfach unterbrechen konnte, waren vorbei, und der Aufstand breitete sich aus. In der Armee haben manche sich geweigert, auf die Massen zu schießen und wurden selbst erschossen und ihren Familien in Särgen, mit dem Verbot, diese zu öffnen, zurückgegeben! Sie wurden offiziell von «Terroristen getötet» und das Öffnen der Särge hätte eine Schusswunde im Nacken zutage gebracht. Nur diejenigen konnten desertieren, die vorher ihre Familie in Sicherheit gebracht hatten.
In Anbetracht dieser gewaltigen Repression gegen friedliche Menschen, überzeugte Pazifisten, hat jeder auf den internationalen Protest gehofft, so wie er in Bezug auf die Ereignisse in Libyen und Tunesien zum Ausdruck kam.
Zahlreiche Erklärungen ließen es erahnen. Syrien hat unter der libyschen Intervention, die nicht von der UNO abgesegnet war, gelitten. Und vor allem durch die bedingungslose Unterstützung des Regimes von Seiten des Iran und Russlands. Das syrische Volk hat diese Unterstützung nicht gesucht, es hat die Konsequenzen zu tragen. Syrien ist ein Spielfeld für absurde Geopolitik geworden, fast ausschließlich für Machtspiele, denn dieses kleine Land hat praktisch keinen Reichtum, der von Weltinteresse wäre. Sein Reichtum ist seine Position an der Kreuzung zwischen Orient und dem europäischen Okzident, zwischen dem Nordkaukasus und Afrika, eine Position, die durch die Entwicklung des Luftverkehrs bedeutend geschwächt wurde. Und aus diesem altüberlieferten Reichtum entspringt der wahre große Reichtum: die Verschiedenheit der Völker, die viele Europäer beeindruckt - vielleicht auch beunruhigt? Araber verschiedener Konfessionen, Moslems oder auch nicht, verschiedene Christen, Armenier, Turkmenen, Tscherkessen, Kurden, Palästinenser, Kreter, … alle seit Generationen vermischt auf diesem Territorium.

Das Schüren von Konflikten

Das Spiel dieses Regimes ist es zu desinformieren und zu manipulieren, um die Konflikte zwischen den einzelnen Volksgemeinschaften zu schüren, sowohl hier im Land als auch im Libanon. 40 Jahre Machtausübung mit einem «weltlichen» Deckmantel, hinter dem eine ganz andere Realität steht und wo aus Klientelismus auf alle Schlüsselpositionen der Macht unterworfene Personen gesetzt werden, sehr oft aus der alevitischen Minderheit. (Dies ist der Hauptgrund für die Abneigung gegenüber dieser Gemeinschaft). Eine andere Praxis ist, auf verantwortliche Posten eine Person aus einer Minderheit zu setzen, hinter der jedoch im Schatten eine Andere die wirkliche Macht ausübt. So will man den Anschein erwecken für die Minderheiten einzustehen. Niemand erliegt jedoch diesem Schwindel. Trotz all dieser Maßnahmen fällt die Mehrheit des syrischen Volkes nicht in die Falle des ethnischen Hasses.
Die Regierung hat Milizen organisiert und bewaffnet, die offiziell aufgefordert wurden, nach ethnischen Kriterien zu plündern und zu morden. Sie haben großen Terror gesät, konnten sich jedoch immer wieder offiziell aus der Affäre ziehen! Und als die Armee es nicht schaffte, die schlecht bewaffneten Rebellen die kaum über Kommunikationsmittel verfügten, auszuheben, kamen ihr die Milizen der «Partei Gottes», der libanesischen Hisbollah zu Hilfe, die, ohne zu zögern, junge Libanesen in den Tod schickte. Ein Verbrechen dieses Regimes ist, dass es zahlreiche junge Leute betrogen und zu Kriminellen gemacht hat.
Die syrische Armee ist eine Doppelarmee. Ein Teil ist schlecht ausgerüstet und ungenügend ausgebildet, der andere hingegen sehr gut ausgestattet. Erstere musste in den Kasernen bleiben mit dem Verbot, andere Medien zu hören als die regierungsfreundlichen. Die Soldaten wurden schlecht ausgerüstet in manche Schlächtereien geschickt. Die Anderen, die Effizienten, von Russland Ausgerüsteten, vom Iran Unterstützten und vollkommen von den Aleviten Kontrollierten, griffen mit Panzern und Flugzeugen an, und warfen TNT-Fassbomben und Scud-Raketen auf bewohnte Gebiete ab.
Die Episode mit den chemischen Waffen ist bezeichnend: Die Regierung hat behauptet, keine chemischen Waffen zu besitzen. Schon vor der massiven Attacke des 21. August haben sie sie mehrmals eingesetzt. Als der internationale Protest losging, haben sie schlussendlich zugegeben, solche Waffen zu besitzen! Und schon die nächste Unwahrheit: Sie hätten diese nicht benutzt. Die Augenzeugen, das medizinische Personal, die Rettungsleute, die Opfer, die Familien der Toten, all ihre Zeugenaussagen wurden hinweggefegt, die zählten nicht… Und von da an beschäftigt man sich zwar auf internationaler Ebene mit den chemischen Waffen und ihrer Eliminierung - an und für sich eine gute Sache, wenn sie auch zu spät kommt - aber man erlaubt es ihnen weiterhin, dieses Land kaputt zu machen («tötet ohne Chemie, Bio ist gefragt!»).

Geopolitisches Spiel

Gleichzeitig spielen die verschiedenen Großmächte ihr geopolitisches Spiel, wer wohl der Stärkere sein und gewinnen wird. Und jeder unterstützt die eine oder andere Gruppe von Oppositionellen, beliefert sie mit Waffen, in der Hoffnung auf zunehmenden Einfluss in der Region, anstatt einer klaren und ehrlichen Vision dessen, was reell auf dem Spiel steht, nämlich die Freiheit eines Volkes und die Kräfte zu unterstützen die dafür kämpfen: die freie Armee. Aber wer hört - außerhalb Syriens - die Deklarationen der freien Armee, die paradoxer Weise das pazifistischste Element von allen ist? Die Schweigemauer der internationalen Medien ist schrecklich, und verwirrend.

Extreme Gefahr für Opposition

Die an der Macht sind, haben alles Interesse am Chaos, und sie bemühen sich bestimmte Gruppen zu infiltrieren und zu manipulieren, Gruppen, die sich dann als Oppositionelle präsentieren, die aber einfach nur Banditen sind. (Die Befreiung seitens der Regierung von gewöhnlichen Kriminellen und radikalen Islamisten gehört zu dieser Manipulation).
Die Opposition ist vielfältig, was überall auf der Welt normal ist. Sie hat Mühe sich zu einigen, aber wie könnte dies auch anders sein, nach 40 Jahren Unterdrückung? Alle verschiedenen Strömungen drücken sich plötzlich aus, mit ihren Divergenzen. Trotzdem hat sie es geschafft, sich auf ein Minimum zu einigen, nämlich gegen den Horror und für die dringende Notwendigkeit, sich von diesem Joch zu befreien.
Eine der Schwierigkeiten der Opposition ist es, unter diesen Bedingungen der Gefahr, der Kommunikations- und Versammlungsprobleme eine oder mehrere Organisationen aufzubauen. Die Opposition entsteht unter extremen Gefahren mit immensen Verlusten. Ein soziales Vernetzungssystem existiert, ist aber auf der Ebene der Organisation von Parteien und verantwortlichen Organisationen unzulänglich. Das was ein Land wie Tunesien nach der Machtübernahme verwirklichen kann, muss die syrische Opposition unter Kriegsbedingungen realisieren.
Das Paradoxe der Opposition, der Freien Armee, ist, dass sie gleichzeitig gegen ein Terrorregime und gegen die kämpfen muss, die nicht ein freies Syrien zum Ziel haben, sondern die das Land autoritären Ideologien unterwerfen wollen. Das, was sich logischerweise nach dem Sturz des Regimes abspielen sollte, hat sich jetzt sofort aufgedrängt und verwirrt das Verständnis der Situation, vor allem im Ausland. Die Realität wird durch Fehlinformation und Täuschung verfälscht widergegeben. Dies wird denunziert, aber immer in Nachhinein und ohne die Unterstützung der Medien.
Eines dieser Beispiele spielte sich in Maaloula ab, einem Dorf mit christlicher Mehrheit in der Nähe von Damaskus, das zusammen mit seinem Nachbardorf Java el Dine (mit muslimischer Mehrheit) berühmt dafür ist, die letzten Orte zu sein, wo die aramäische Sprache noch lebendig ist. Die Medien haben von Massakern berichtet, die von den Revolutionären ausgeführt wurden, was natürlich große Emotionen verursacht hat. Diese Massaker wurden von den religiösen Autoritäten dementiert. Aber wer hat schon deren Version bekanntgemacht?
Ich denke, nur ein militärischer Vormarsch auf dem Terrain wird eine Lösung für das Land bringen.
Manche sagen uns: «ist dieser Preis nicht zu hoch? So viele Toten, soviel Zerstörung ?» Ja, es ist auf jeden Fall zu hoch bezahlt. Niemand, auch die Weitsichtig-sten in Bezug auf die Grausamkeit des Regimes, konnten sich so einen Ausbruch an Gewalt vorstellen. Aber wie all diese Opfer vergessen, diese Toten? Wie die Verschwundenen ihrem Schicksal überlassen, die Gefangenen, die in Gefahr sind, im Stich lassen, die Flüchtlinge… mit anderen Worten: Selbstmord begehen? Keine Versöhnung kann ohne den Sturz des Regimes ins Auge gefasst werden. Eine Aussöhnung, die unentbehrlich ist, wird eine langatmige Arbeit sein, vielleicht nach dem Modell Südafrikas?
Wer kann sich vorstellen, dass ein Regime das so «viel Erfolg» sowohl in seiner Innen- als auch Außenpolitik hatte, andauern könnte? Wer hätte denken können, dass ein Hitler das machen würde was er gemacht hat? Vergessen wir nicht dass er darin unterstützt wurde, manchmal auf naive Weise. Der Assad-Klan ebenfalls.

Im ersten Teil dieses Artikels beschrieb Irène Labeyrie, französische Syrierin, die seit den 70er Jahren in Damaskus lebt, den Vorabend der Revolution aus ihrer Sicht. Wir erhielten daraufhin kritische Reaktionen, von denen wir gerne Ausschnitte in der nächsten Nummer veröffentlichen. Die Artikel, die wir publizieren, vertreten nicht unbedingt DIE Meinung des EBF, sollen jedoch dazu beitragen, komplizierte Sitationen und Ereignisse erfassen und verstehen zu können.( Anm. d. Red.)