Die wehrlosesten Opfer in Kriegen sind immer die Kinder. Die Filmstudentin Marharyta Kurbanova und die Pädagogin Mariya Surzhenko organisieren seit dem Sommer 2022 in den ukrainischen Karpaten kreative «Art-Camps» für kriegstraumatisierte Kinder und Jugendliche. Unser Korrespondent in Transkarpatien Jürgen Kräftner hat sie über ihre Motivation und den Sinn dieser Jugendlager befragt.
Jürgen Kräftner (JK): Wie kam es dazu, dass Ihr beide seit Kriegsbeginn Ende Februar 2022 in der Ukraine schon sieben Jugendlager organisiert habt? Marharyta Kurbanova (MK): Ich stamme aus der Stadt Donezk, seit 2014 ist sie von Russland besetzt. Von 2012 bis 2017 habe ich an der Kiever Hochschule für Kunst Karpenko-Kary studiert, anschliessend bin ich nach Deutschland gegangen und studiere seither an der Filmhochschule Babelsberg in Potsdam. Unmittelbar nach dem Einmarsch der russischen Truppen im Februar 2022 haben wir mit meinem Mann Anton damit begonnen, Menschen bei der Flucht zu helfen, humanitäre Hilfe zu verteilen, einfach das zu tun, was die Leute damals am dringendsten brauchten. Anton hat schon bald seinen Jugendfreund Mischa wiedergefunden, dann kam noch Patrick von der Organisation «LeaveNoOneBehind» dazu. Gemeinsam haben sie beschlossen, eine NGO zu gründen und haben ihr den Namen Base_UA gegeben.
Einmal, als wir Leuten in Lissitschansk (Oblast Luhansk) bei der Flucht geholfen haben, das war im Juni 2022, bin ich einem zwölfjährigen Mädchen begegnet. Sie kam jeden Tag mit ihrem Hund zu unserem Stützpunkt, wo humanitäre Hilfe verteilt wurde. Von dort wurden auch die fluchtwilligen Menschen abgeholt. Sie kam ganz allein, und wir haben begonnen, miteinander zu spielen, und redeten über das Leben in dieser Geisterstadt. Alles war zerbombt. Und ich fragte sie, wie es denn kam, dass sie ganz alleine durch diese Stadt lief. Sie kam zu unserem Stützpunkt, um mit den Kindern zu spielen, die dort im Keller lebten. Wir sind dann unter Artilleriebeschuss geraten. Alle Leute, die sich dort aufhielten, waren sehr erschrocken, und Mascha auch, so hiess dieses Mädchen, Sie hat sich zitternd an meine Hand geklammert und mich gebeten, dass wir sie aus der Stadt wegbringen. (…)
Nach diesem Erlebnis mit Mascha wurde uns klar, dass wir uns gezielt für Kriegskinder einsetzen wollen, und die erste Idee war, Art-Camps zu organisieren. Das lag auf der Hand, denn sowohl mein Mann Anton als auch ich sind Filmemacher und Kunst ist für uns wichtig. Ich habe dann gleich meine beste Freundin Mariya angerufen, wir kennen uns seit der 7. Schulklasse. Mariya ist Pädagogin. Ich fühlte, dass wir beide als Tandem für dieses Projekt prädestiniert waren. Sie war einverstanden und so haben wir gemeinsam überlegt, wie ein ideales Jugendlager ablaufen würde, an dem wir selber in diesem Alter gerne teilgenommen hätten.
JK: Vielleicht kannst du noch etwas über dich und euch sagen. Ihr habt alle beide Fluchterfahrung? MK: Ja, ich bin in Donezk geboren. Aber ich bin noch vor der Besetzung zum Studium nach Kiev gegangen. Den Kriegsbeginn 2014 habe ich schon dort erlebt. Aber über meine Familie war ich natürlich betroffen. Meine Grossmutter lebt jetzt in einem Dorf im besetzten Luhansk. Meine Mutter lebt und arbeitet nun in Moskau, ab und zu fährt sie nach Donezk, um nach unserer Wohnung und unserer Katze zu sehen, die unter der Obhut der Nachbarin ist.
JK: Wie ist der Kontakt? MK: Wir telefonieren regelmässig via Whatsapp. Sie ist prorussisch eingestellt und wir haben viel gestritten, eine Zeit lang haben wir gar nicht mehr miteinander geredet. Keinerlei Argumente konnten sie umstimmen. Wir haben dann entschieden, nicht über politische Fragen zu sprechen, um uns nicht ganz zu verlieren. Das ist natürlich schwierig, denn mein Leben steht jetzt völlig im Zeichen des Krieges. Wir reden erst seit zwei Monaten wieder miteinander.
JK: Und du, Mariya, stammst auch aus Donezk? Mariya Surzhenko (MS): Nein, bis zum Alter von 12 Jahren bin ich in Volnovacha aufgewachsen, auf halben Weg zwischen Mariupol und Donezk. Dann sind wir mit meiner Mutter nach Donezk umgezogen, und dort habe ich Marharyta kennengelernt. Von da an haben wir dort unsere wunderbare Kindheit voller Freundschaft und Kreativität verbracht. 2012, als Marharyta zum Studium nach Kiev ging, haben wir, alle ihre Freundinnen, sie zum Zug begleitet und geweint.
2014 mussten wir dann weg, ich dachte für ein paar Wochen, nun sind es schon 9 Jahre. Das war im Juni 2014. Ich war damals 19 und im zweiten Studienjahr. So ein Alter, in dem man gerade erst ins erwachsene Leben eintritt, und da hat uns das Leben bereits voll eingeholt. Ich habe mich dann immer mehr für Pädagogik interessiert, nachdem ich zunächst Philologie studiert hatte, und habe während drei Jahren am Waldorf-Seminar studiert. Nach dem Abschluss habe ich zuerst im Kindergarten gearbeitet. Anschliessend habe ich während vier Jahren in einer Waldorfschule in Odessa gearbeitet. Dann hat der russische Grossangriff im letzten Jahr begonnen. Ich bin nach Lviv umgezogen, denn ich fühlte mich in Odessa nicht sicher. Ich war noch nicht lange dort, da hat mich Marharyta angerufen und ich war sehr froh über die Idee, etwas für Jugendliche zu tun und meine Erfahrung nützlich einzusetzen. Wir würden nicht einfach Lager organisieren, sondern diese wirklich nach den Bedürfnissen der Jugendlichen gestalten. Wir haben die Stärkung der psychischen Resilienz der Jugendlichen zur obersten Priorität unserer Camps gemacht. Und ihnen mit Hilfe des künstlerischen Ausdrucks zu helfen, mit ihren Gefühlen leichter zurecht zu kommen. Auch negative Gefühle sollen künstlerisch ausgedrückt werden und dann Platz frei machen für etwas Neues. Während der Lager schaffen wir einen geschützten Raum, in denen sie sich sicher fühlen, ohne Kriegslärm, es gibt Erwachsene, die sie unterstützen und sie finden Freunde, denen sie sich mitteilen können.
JK: Die Camps von Base_UA dauern nur 12 Tage. Ist das ausreichend, um einem Kind nachhaltig zu helfen? MS: Unsere Camps ersetzen keine Therapie. Diese dauert viel länger. Aber ohne Zweifel haben unsere Camps eine therapeutische Wirkung. Nach den Camps berichten uns die Eltern darüber, wie ihre Kinder zurückgekommen sind. Wir haben sehr viele Berichte darüber, dass die Kinder ganz andere Verhalten an den Tag legen. Die 12 Tage der Camps sind sehr intensiv und die Kinder erlangen das Gefühl, dass sie ihr Leben aktiv gestalten können. Sie merken, dass sie ihre Gefühle zeigen und mit ihnen zurechtkommen können. Wir haben wunderbare Berichte über Kinder, die in ihren Familien plötzlich viel aufgeweckter und herzlicher sind. Sie finden neue Beschäftigungen und Sinn im Leben. Sie legen die stressbedingte Apathie ab, und finden wieder die Energie, um aktiv zu werden. Wir bleiben nach den Camps mit den Kids in Kontakt und erfahren so, wie es ihnen geht.
MK: Der Grundgedanke unserer Camps ist es, den Jugendlichen dabei zu helfen, die Energie wieder zu finden, die bei ihnen durch die widrigen Umstände blockiert ist. Und wir helfen ihnen, kreative Lösungen für ihre schwierigen Lebenssituation zu finden, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sie merken plötzlich, dass es viele Möglichkeiten gibt, die sie vorher nicht gesehen haben. Und sie lernen, sich selber und ihre emotionalen Probleme zu akzeptieren. Sie öffnen sich gegenüber ihren Familien, manche suchen auch Hilfe durch Psychologinnen oder Psychologen. Wir hatten zum Beispiel einen Jungen, Andrij. Als er nach Hause kam hat er seine Mutter gefragt, ob er sie umarmen darf, was er von sich aus früher nie gemacht hätte. Ein anderer Junge hat damit begonnen, Gitarre zu spielen. Das war vor einem Jahr, und er spielt immer noch jeden Tag.
MK: Die Kinder übernehmen gerne einige der Methoden, die wir gemeinsam mit ihnen ausprobieren, um ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Wir stehen morgens und abends im Kreis und tauschen uns aus. Beim Abendkreis steht eine Kerze in der Mitte und es geht darum, wie sie den Tag erlebt haben. Wir ermuntern die Kinder auch, eine Art Tagebuch zu führen und ihre Eindrücke und Gefühle aufzuschreiben. Von einem Mädchen haben wir erfahren, dass sie diese Methode für sich beibehalten hat, abends zündet sie eine Kerze an und notiert ihre Gefühle in ihr Tagebuch. Die Kinder erlernen und benutzen diese Methoden der Selbstreflektion, und wenn sie sich dann an ein Lied aus dem Camp erinnern oder etwas malen, dann hilft ihnen das, sich von den negativen Gefühlen zu befreien. Die Kinder bekommen von uns auch bedruckte T-Shirts, die sie gerne tragen und die sie an die positive Stimmung im Camp erinnern.
JK: Werdet Ihr bei eurer Arbeit von Psycholog·innen unterstützt? MK: Bei den Camps in den Bergen hatten wir eine Psychologin in unserem Team. Hier im Dorf Nischnje Selischtsche haben wir diese Verantwortung selber übernommen. Einen Teil unseres Programms haben wir mit einem Psychologen ausgearbeitet. Es gibt tägliche Gespräche mit den Jugendlichen über ihre Gefühle. In den Camps in den Bergen, wenn eine Psychologin dabei ist, gibt es immer die Möglichkeit für individuelle Gespräche. Und das wird auch genutzt, wir hatten ab und zu wirklich schwierige Situationen. Aber grundsätzlich suchen sich die Kinder selbst eine Bezugsperson aus unserem Team aus, mit denen sie über ihre Sorgen reden möchten. Heute zum Beispiel haben wir mit den Kindern über ihren «inneren Freund» gesprochen. Artem, ein Junge aus Severodonezk, brach in Tränen aus, als er von seinem besten Freund berichtete, der in der von den Russen besetzten Region geblieben ist. Er wollte darüber mit Genia sprechen, unserem Teammitglied, weil der auch aus Severodonezk geflüchtet ist
JK: Und wie geht es euch hier in unserem Gästehaus SargoRigo?1 MK: Wunderbar, wir fühlen uns wie zuhause. Es gefällt uns sehr, dass dieses Haus und die Umgebung eine kleine Welt für sich sind, das hat auf die Gruppendynamik einen sehr positiven Einfluss. Wir bleiben unter uns und fühlen uns wie eine grosse Familie. Wir organisieren ja auch Camps in Hotels in den Bergen, und dort sind ausser uns auch andere Gäste. Hier sind wir aber unter uns. Dadurch entsteht deutlich schneller Vertrauen unter uns allen.
JK: Was unterscheidet die Camps von Base_UA von anderen Jugendlagern während des Krieges? MS: Die meisten Camps beschränken sich darauf, die Jugendlichen zu beschäftigen. Für uns ist es zentral wichtig, ihnen zu vermitteln, wie sie ihre traumatischen Erfahrungen verarbeiten und auch in Zukunft damit umgehen können. Wir bieten also nicht einfach Freizeitbeschäftigung an, sondern es geht um eine Erneuerung der inneren Kraft und darum, dass sich die Jugendlichen bewusst werden, dass sie ihre Probleme bewältigen können. Unser langfristiger Traum ist, dass es mehr Gruppen und Initiativen wie die unsere gibt, die mit Jugendlichen arbeiten und sich über ihre Erfahrungen austauschen.
Das Gespräch führte Jürgen Kräftner im Oktober 2023
- SaroRigo (dt. Pirol): ehemaliges Schulgebäude in Nischnje Selischtsche, das zu einem Jugendgästehaus umgebaut wurde. Ab den ersten Tagen des Krieges diente das Haus als Zufluchtsort für Kinder aus den umkämpften Gebieten. Momentan werden hier Seminare und Art-Camps veranstaltet. Die Herberge wird von dem lokalen Verein Molotok betrieben, der vom Europäischen BürgerInnen Forum (EBF) unterstützt wird.