UKRAINE: Ein Jahr nach Kriegsbeginn

von Jürgen Kräftner, EBF, 13.03.2023, Veröffentlicht in Archipel 323

«Wir nähern uns dem 24. Februar und haben grosse Lust auf Frieden. Das Wetter ist sehr schön, es liegt noch etwas Schnee und es riecht ein wenig nach Frühling.» Mit diesen Worten beginnt unser Korrespondent aus der Ukraine seinen Brief, der über die Stimmung nach einem Jahr Krieg erzählt und über verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen berichtet.

Ihor Mitrov, ein junger ukrainischer Dichter aus Kertsch am Asowschen Meer, der im Februar 2022 freiwillig zur Armee ging, gab kürzlich ein langes Interview, in dem er sich differenziert über seine Erfahrungen äusserte. Er bereut seine Entscheidung nicht. Gleichzeitig entgegnet er den Leuten, die behaupten, dass ihn der Krieg mit wertvollen Erlebnissen bereichert, vorausgesetzt, er überlebt: «Nein, keine Spur. Der Krieg ist keine Schule, der Krieg ist eine Strafe.»

Ein kleiner Hoffnungsschimmer: Mehrere Kameraden aus der Einheit unseres Freundes Maksym Butkevych[1], Journalist und Menschenrechtsaktivist, wurden seit Neujahr freigelassen. Einer von ihnen hat berichtet, dass es Maksym vergleichsweise gut geht und er seine Moral bewahrt. Er soll sich in einem Gefängnis in der Oblast Luhansk befinden, in einer Zelle mit anderen Offizieren der ukrainischen Armee.

Heute (Freitag, 10. Februar) ging erneut ein Raketenhagel auf die Ukraine nieder und wir sitzen seit einigen Stunden im Dunkeln. Die Kinder wurden nach mehr als zwei Stunden in den Schutzräumen aus der Schule in unserem Karpaten-Dorf Nischnje Selischtsche entlassen. Aber all das sieht nach Routine aus. Keine Routine natürlich für diejenigen, die das Pech haben, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Kindern eine Stimme geben

Unsere Künstlerfreundinnen Nastya und Genia besuchten vor zehn Tagen in Kramatorsk das Tato-Hub, ein unabhängiges soziales und kulturelles Zentrum, um mit Kindern zwischen fünf und siebzehn Jahren Postkarten mit ihren Lieblingsplätzen in der Stadt zu gestalten und die dazugehörigen Geschichten zu erzählen [2]. Das ist eine Möglichkeit, ihnen eine Stimme zu geben und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sich jemand in dieser Welt für sie interessiert. Diese Kinder sind seit fast einem Jahr in Wohnungen und Kellern eingesperrt. Keine Schule, kein Sport, kein soziales Leben.

Die Lage in Kramatorsk und Umgebung hat sich verschlechtert. Der Leiter des Tato-Hubs schrieb uns vor drei Tagen, dass er das Lokal aus Sicherheitsgründen schliessen musste, das ist traurig. Denn das Zentrum war der letzte Ort, der Präsenzaktivitäten anbot. Bei unserem Treffen im letzten Dezember hatte er erzählt, dass in Kramatorsk derzeit 70.000 Menschen leben, darunter zahlreiche Kinder. Viele von ihnen waren zu Beginn des Krieges weggegangen und im Herbst zurückgekehrt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie wieder weggehen, selbst wenn die Front näher rückt.

Gefährliche Evakuierungen

Zum gleichen Thema rief uns vor einigen Tagen unsere Bekannte Katja an; sie arbeitet bei der Organisation «Die Elche des Hl. Nikolaus», die seit 2014 in der Ostukraine tätig ist. Sie kam gerade von Bakhmut zurück. Sie war schockiert über die Anwesenheit von immer noch 200 Kindern in dieser Stadt, in der es kein Haus mehr gibt, das nicht von Granaten getroffen wurde. Da sie das Gästehaus im Dorf Nischnje Selischtsche, wo ich lebe, kennt, bat sie uns um Hilfe, so vielen Kindern wie möglich eine – zumindest vorübergehende – Perspektive nach ihrer Evakuierung zu ermöglichen. Wir sind bereit. Jetzt müssen nur noch die Eltern überzeugt werden (das ist der schwierigste Teil) und der Transfer muss organisiert werden. Wir bleiben am Ball. Bakhmut wurde vor zwei Tagen für Zivilist·inn·en geschlossen, was die Evakuierung noch komplizierter machen wird.

Gegen die Korruption

Unsere Freunde und Freundinnen von der Gruppe Base·UA haben es geschafft, zwei grosse Familien (14 Personen) aus Siversk, in der Nähe von Bakhmut, in zwei Häuser zu evakuieren, die sie im Süden der Ukraine, nicht weit von Moldawien, gekauft haben. Das scheint eine gute Wahl zu sein, da die Preise für Häuser dort mit 3000 € sehr niedrig sind, die Leute konnten sofort einziehen[3]. Einer der Kollegen von Base·UA, ein medizinischer Freiwilliger aus den USA, wurde leider im Januar bei einer Evakuierung aus Bakhmut durch Granatenbeschuss getötet.

Die Provinz Transkarpatien, in der ich lebe und die sich im westlichsten Teil der Ukraine befindet, ist in vielerlei Hinsicht nicht sehr repräsentativ für die Ukraine, weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten. Als wir nach Neujahr nur noch 4-5 Stunden Strom pro Tag hatten, waren wir plötzlich stärker betroffen und es kam zu vereinzelten Protesten, vor allem dort, wo es offensichtlich zu einer Ungleichbehandlung bestimmter Stadtteile oder Unternehmen kam. Die Proteste und vielleicht auch eine etwas bessere allgemeine Versorgungslage haben dazu geführt, dass wir derzeit zu 50 Prozent oder mehr mit Strom versorgt werden. Leider ist aber die Antikorruptionsbewegung in unserer Region nicht stark genug. (…) Die Korruption in der Armee, deren Beweise Enthüllungsjournalist·inn·en kürzlich veröffentlicht haben, hat hier kaum jemand überrascht. (…) Es besteht kein Zweifel daran, dass die Korruption nicht von heute auf morgen verschwindet, aber auch dieser Kampf wird an vielen Fronten geführt. Der Verteidigungsminister wird offenbar bald ausgetauscht, und noch wichtiger ist es, dass die vom Ministerium getätigten Einkäufe nun veröffentlicht werden. Drei Vizeminister im Verteidigungsministerium wurden heute Morgen durch vertrauenswürdige Personen ersetzt.

Jürgen Kräftner, am 10. Februar 2023

  1. Siehe Archipel Nr 317, Sept. 2022: «Freiheit für Maksym Butkevych» und Nr. 319, Nov. 2022: «Schon siebeneinhalb Monate Krieg»

  2. Hier findet ihr den Bericht über ihre Reise auf Deutsch als pdf: www.dropbox.com/s/pgbc4gcpa6minz4/PostkartenausKramatorsk.pdf?dl=0

  3. Was die Unterbringung von Geflüchteten betrifft, ist Transkarpatien die teuerste Region für die Miete von kleinen Wohnungen geworden. In Uschhorod kostet die Miete für eine Ein-Zimmer-Wohnung durchschnittlich über 400 €! Die Vermieter·innen bereichern sich offenbar schamlos.