UKRAINE: Hilfe durch Kunst und Therapie

von Olga Zubyk und Paul Braun, EBF, 09.02.2025, Veröffentlicht in Archipel 344

Seit 2023 unterstützen wir aktiv die Organisierung von «Art-Camps» in Transkarpatien (Ukraine).1 Das sind Jugendlager, in denen Kinder und Jugendliche sich anhand verschiedener Kunstformen begegnen und frei ausdrücken können. Die jungen Menschen lieben diese Treffen, fühlen sich verstanden und gestärkt, knüpfen neue Freundschaften und gewinnen an Resilienz, die für sie lebensnotwendig ist.

In den fast elf Jahren seit dem Ausbruch der kriegerischen Handlungen in den östlichen und südlichen Regionen der Ukraine hat sich die Realität für die junge Generation erheblich verändert. Bewusste junge Menschen aus den Oblasten Donezk und Luhansk, die ihre Zukunft nicht unter der russischen Besatzung gesehen hatten, verliessen die Region bereits 2014. Für diese Menschen sind die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend im Donbass sehr wertvoll. Und selbst jetzt, nach einem Jahrzehnt Leben in anderen Regionen der Ukraine oder im Ausland, versuchen sie, regelmässig an die Orte zurückzukehren, wo sie aufgewachsen sind. Für die Zehntausenden von Jugendlichen, die weiterhin in den lebensbedrohlichen Regionen der Ukraine leben, ist die Entscheidung zu bleiben keine persönliche Entscheidung. Sie wird aufgrund einer Reihe von Umständen getroffen, die von der familiären und finanziellen Situation abhängen. Auch sind ihre Eltern nicht immer bereit, ein neues Leben ohne jegliche Gewissheit von Stabilität und Sicherheit an einem neuen Ort zu beginnen. Diese Jugendlichen leben weiterhin unter den Bedingungen, die ihnen die «moderne» Realität diktiert: Online-Schulbildung, minimale Sozialisierung. Hinzu kommen erschöpfte Eltern, die nicht immer die Ressourcen haben, um ihre Kinder zu verstehen und emotional zu unterstützen.

Projekte im Gästehaus

2019 wurde Nailya Ibragimova, die zuvor im Osten in der Region Luhansk gelebt und Freiwilligenarbeit geleistet hatte, Teil des Teams der Longo-maï-Kooperative im Dorf Nischnje Selischtsche und Mitglied des EBFs. Seitdem veranstaltet unser Team regelmässig Camps für Kinder aus den Frontgebieten in den Räumen des Gästehauses «Sargo-Rigo» (dt. Pirol). Dieses von uns mitgegründete Gästehaus, ein umgebautes ehemaliges Schulgebäude, dient uns für verschiedenste Projekte mit den Geflüchteten – mit Kindern und Erwachsenen aus den Kriegsgebieten – und ist ein gemeinsames Projekt von aktiven Dorfbewohner·innen.

Nach einem Treffen mit zwei jungen Frauen aus Donezk, Margarita Kurbanova und Maria Surzhenko, begannen wir die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisation «Base_UA» und vor allem deren Art-Camps für Jugendliche im Alter von 13-16 Jahren zu unterstützen. Bei diesen Projekten handelt es sich um 10- oder 14-tägige Camps für 18 Teilnehmer·innen, in denen die Jugendlichen mit Hilfe von offenen und sehr proaktiven Trainer·innen und Mentor·innen die Möglichkeit haben, in eine andere Realität einzutauchen – über Themen zu sprechen, die für sie relevant sind, ihre Stärken und Schwächen durch die Kunst zu offenbaren, neue Freundinnen und Freunde zu finden und ein Gefühl von Selbstvertrauen zu entwickeln. Durch Theater, Singen, Mimik, plastische Kunst, Malerei, Tanz, aber auch durch viel Bewegung in der Natur können die jungen, zumeist traumatisierten Menschen ihre Gefühle ausdrücken, die sie in den meisten Fällen vor ihren Eltern aus Rücksicht verbergen. Das Team dieser Horitsvit-(Horizont) Artcamps wird im Februar das 14. Camp abhalten. Diese Camps finden, je nach Jahreszeit, an verschiedenen Orten in Transkarpatien statt.

Wer an einem Camp teilnehmen möchte, muss ein Bewerbungsformular einreichen; es bewerben sich jedes Mal viel mehr Kinder als Plätze zur Verfügung stehen. Die Organisator·innen versuchen, diese dann bei der nächsten Auswahl soweit es geht zu berücksichtigen. Die Camps sind für die Teilnehmer·innen – Teenager aus gefährlichen Regionen der Ukraine – völlig kostenlos. Unsere Unterstützung und diejenige von anderen Hilfsorganisationen ist daher sehr wertvoll. Und die Rückmeldungen der Kinder und ihrer Eltern nach dem Besuch des Camps sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass ihnen diese Erfahrung Auftrieb und Hoffnung für ihre Zukunftsplanung gibt und ihnen das Gefühl vermittelt, von Erwachsenen mit ähnlichen Erfahrungen unterstützt zu werden.

In der Jugendherberge

Eine weitere Initiative von uns – in Zusammenarbeit mit der Kooperative Longo maï und ihren Kolleg·innen im Dorf Nischnje Selischtsche – sind die Camps in der Jugendherberge im Dorf, an denen, je nach Ausrichtung des Camps, verschiedene Gruppen von Kindern und verschiedene Trainer·innen teilnehmen. Für dieses Jahr haben wir vier solche Camps geplant: ein Camp für Mütter mit Kleinkindern, die in den Jahren 2022 und 2023 geboren wurden, ein Kunstcamp für Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren, ein Theatercamp für Teenager (zwischen 15 und 18 Jahren) und ein Camp mit Schwerpunkt auf der Vermittlung von Foto- und Videokunst für Jugendliche. Wir werden über diese Camps gerne immer wieder im Archipel berichten.

Seminar zur psychischen Gesundheit

Aber auch sehr viele Erwachsene sind durch die Kriegssituation traumatisiert. Millionen von Frauen, Männern und Kindern in der Ukraine leben tagtäglich mit den emotionellen und psychischen Auswirkungen des Krieges. Müdigkeit, Leid, Verlust von Angehörigen, Schwierigkeiten im Alltag sowie die Unberechenbarkeit der russischen Aggression nagen an den Seelen der Menschen. Doch wie so oft bei bewaffneten Konflikten stehen psychologische Hilfe und die Unterstützung von Leidenden nicht an erster Stelle, denn bei Hunderten von Frontverletzten pro Tag gibt es immer Dringenderes zu tun. Doch alle in der Ukraine sind sich darüber im Klaren, dass unabhängig vom Ausgang des bewaffneten Konflikts, Millionen von Menschen Hilfe benötigen werden, um sich eine Zukunft aufbauen zu können. Der Bereich der psychischen Gesundheit ist in der Ukraine keine Priorität für die Regierung, obwohl es auch hier eine Reihe staatlicher Initiativen gibt. In ländlichen Regionen wie Transkarpatien, wo wir seit über dreissig Jahren tätig sind, besteht auch weiterhin ein starkes Misstrauen gegenüber der Psychiatrie, die immer noch als stark hierarchisch und autoritär angesehen wird. Die Last der Bürokratie und eines psychiatrischen Systems, das in der Vergangenheit vielfach auf Einsperren und Kontrolle setzte, ist noch nicht ganz verschwunden.

Glücklicherweise gibt es auch zahlreiche private und assoziative Initiativen. In solch einem Rahmen organisieren wir in diesem Frühjahr zum zweiten Mal ein Seminar über psychische Gesundheit in Nischnje Selischtsche. Wir möchten den verschiedenen Berufsgruppen, die mit Menschen in Kontakt stehen, die von dem derzeitigen Krieg in der Ukraine betroffen sind, einen Raum für Reflexion, Schulung und Ressourcenbeschaffung bieten. Der Workshop wird von befreundeten Psycholog·innen und Psychiater·innen aus der Schweiz und Frankreich geleitet, die über eine solide Erfahrung in der Arbeit sowohl mit Geflüchteten als auch in Kriegsgebieten verfügen. An dem Workshop werden Ukrainer·innen, die interne Geflüchtete aufgenommen haben, und Psycholog·innen, Psychiater·innen sowie Allgemeinmediziner·innen aus Transkarpatien teilnehmen, die mit vielen traumatisierten Menschen konfrontiert sind, Wir hoffen, auf diese Weise professionelle Supervisions- und Begleitungslinien zu schaffen, die später auch online fortgesetzt werden können. Ziel ist es auch, die Zahl der ausgebildeten Ansprechpartner·innen vor Ort zu erhöhen.

Olga Zubyk und Paul Braun

  1. Siehe Archipel Nr. 331, Dezember 2023: «Ukraine: Art-Camps für Kriegskinder».