Seit Anfang 2023 lebt und arbeitet Emmanuel Dache aus Brüssel mit den Menschen im ukrainischen Kriegsgebiet. Er hatte das nicht geplant, sich jedoch dazu berufen gefühlt – unter anderem, weil er gerne und gut für viele Menschen kocht. Hier einige seiner Eindrücke.
Chust in Transkarpatien (Westukraine) am Samstag, dem 18. Februar 2023: Wir haben gerade Diesel getankt und machen uns auf den Weg nach Kiew und nachher geht es weiter in den Südosten des Landes. Es ist etwas weniger als eine Woche her, seit ich in der Ukraine angekommen bin, und ich freue mich darauf, bald die Menschen zu treffen, mit denen ich leben und zusammenarbeiten werde. Im Auto sitze ich mit Sergej und Edgar; wir rasen in der einbrechenden Dunkelheit über die Strassen. Ich kenne meine Mitreisenden nicht sehr gut; wir haben nur drei Tage lang einige Gespräche über den Krieg, die Realitäten in einer Flüchtlingsunterkunft und mein mögliches Engagement geführt. Sergej arbeitet seit einigen Monaten mit der Kooperative Longo maï im Dorf Nischnje Selischtsche in Transkapatien und dem Europäischen Bürger:innenforum zusammen; Edgar ist Mitglied von «World To Ukrainians» (die Organisation, mit der ich zusammenarbeite). Im Auto, obwohl beide Englisch sprechen, unterhalten sie sich hauptsächlich auf Ukrainisch, wahrscheinlich über die Organisation der Reise (die drei Tage dauern wird), ich verstehe gerade nichts und beschäftige mich, indem ich versuche, die Landschaft wahrzunehmen und mir die Stimmung in den Dörfern vorzustellen, durch die wir fahren. Es ist mittlerweile dunkel und die Strassen sind leer.
Der Beginn
Anfang des Jahres war ich sehr motiviert, mich an der Solidarität mit der Ukraine zu beteiligen. Ich hatte gerade eine positive Erfahrung gemacht, als ich die Küche des «Centre Léopold» (erstes Aufnahmezentrum für ukrainische Geflüchtete in Brüssel) geleitet hatte. Da die hundert Bewohner·innen dieses Zentrums ihren Alltag inzwischen selbstständig bewältigen konnten, gab es für mich keinen Grund mehr, dieses Engagement fortzusetzen, und mein Arbeitsvertrag lief aus.
Zu dieser Zeit benötigte das Europäische Bürger:innenforum Hilfe, das zahlreiche Initiativen[1] ergriffen hatte, und ich nahm Kontakt zu dessen Vertreter·innen auf. Ein paar Tage später erhielt ich einen Anruf aus Transkarpatien, es war Oreste Del Sol von dieser Organisation. Oreste und ich waren uns in der Vergangenheit schon ein- oder zweimal begegnet, aber wir kannten uns nicht wirklich; er wusste zumindest, wer ich war und umgekehrt. Bei diesem ersten Telefongespräch war der Ton locker und es war klar, dass ich mich nützlich machen könnte. Ich bin Koch und ehemaliger Veranstaltungsleiter. Ich glaube, dass meine wanderlustige und einfallsreiche Seite sowie meine verschiedenen Erfahrungen in der Küche mit Zielgruppen, die in prekären Situationen sind, unter den gegebenen Umständen sehr willkommene Eigenschaften sind.
Kochen in einer alten Fabrik
Zu Beginn meiner Tätigkeit sollte ich an einem Projekt im Dorf Nischnje Selischtsche (Transkapatien, Westukraine) teilnehmen, aber eine Woche vor meiner Abreise aus Brüssel wurde mir vorgeschlagen, das Ziel zu wechseln, da das Projekt in Nischnje recht gut funktionierte. Aber an einem anderen Ort war der (ukrainische) Koch eines Zentrums für Geflüchtete von der Armee mobilisiert worden. Dadurch wurde die Situation in der Küche sehr schwierig. Und jetzt war ich dorthin unterwegs.
Dieser andere Ort war Saporischschja und nach mehreren Diskussionen mit den verschiedenen Projektleiter·innen (u. a. über Sicherheitsfragen) war die Sache geklärt: Ich würde für eineinhalb Monate 35 km von der Front entfernt leben und für 250 Menschen kochen. Wie und mit wem? Die Antworten auf diese Fragen waren sehr vage (meine Gesprächspartner·innen kannten keine Details über den Ort und noch weniger über das Kochen), nur die Sicherheit und das Warum waren wichtig: In einer alten Fabrik in Saporischschja werden Zivilistinnen beherbergt, die aus den Kampfgebieten im Südosten geflohen sind (Berdiansk, Mariupol, Melitopol, Cherson…) es sind ständig um die 100 Personen. Auch andere Orte werden versorgt, die über keine kulinarische Infrastruktur verfügen. Bisher kochen wir täglich für 780 Personen. Seit der Eröffnung im April 2022 sind hier über 4000 Menschen durchgegangen.
Das Leben in Saporischschja ist zwar kompliziert, aber nicht so, wie ich mir eine Stadt im Krieg vorgestellt hatte. Es ist ziemlich gefährlich, sich hier aufzuhalten; zwei- oder dreimal täglich gibt es Bombenalarm und manchmal hält er auch mehrere Tage lang an. Mein Wohn- und Arbeitsort befindet sich im Keller dieser Fabrik, 15 km vom Stadtzentrum entfernt, daher lebe ich in relativer Sicherheit. Das grösste Risiko gehe ich ein, wenn ich mich in der Stadt bewege. Im Falle eines Alarms ertönen die Sirenen und wir haben eine Smartphone-App, die den Alarm anzeigt, was zu tun ist und wohin man gehen muss. Wenn ich jedoch in einem Bus sitze und ein Alarm ertönt, greifen alle zu ihren Handys, stellen den Alarm ab und fahren weiter, ohne weiter zu achten. Es bleibt also gefährlich, sich fortzubewegen, denn die Bombenangriffe, welche die Stadt hier und da treffen, sind sehr real. Wenn die Lage ruhig ist, funktionieren die Geschäfte (Lebensmittel, Kleidung, Bars und Restaurants) normal und wir finden alles von den einfachsten bis zu den luxuriösesten Produkten. Das Leben nimmt dann einen mehr oder weniger normalen Verlauf, auch wenn man das Flanieren vermeidet. Wenn ich in der Stadt etwas trinken gehe oder wenn ich in Alarmbereitschaft bin, bevorzuge ich immer ein Restaurant oder eine Bar im Untergeschoss.
Kein Ende des Leides
Im Vergleich zum Westen des Landes ist die Anspannung hier grösser und die Gesichter wirken müder. Im Winter, als sich die Ukraine auf die Gegenoffensive vorbereitete, waren die Menschen hier zwar besorgt, aber sie glaubten, dass die ukrainische Antwort auf das, was sie seit über einem Jahr erdulden mussten, angesichts der Unterstützung durch Waffenlieferungen aus anderen Ländern bedeutend sein würde und die Invasoren beruhigen würde, «dass sie es ihnen zeigen würden».
Die Schlacht begann am frühen Abend des 9. Juni 2023 und die «spektakulären Durchbrüche», die alle erwartet hatten, waren weniger bedeutend als erwartet. Saporischschja leidet weiterhin.
Während der schönen Sommertage zog der Voznesenivskiy-Park im Stadtzentrum Familien und andere Schaulustige an. Mit seinen zahlreichen Getränkeständen, Wasserstellen und Aktivitäten für Kinder war er wieder zu einem beliebten Ort für den Spätnachmittag und die Wochenenden geworden. Am frühen Abend des 10. August schlug eine Rakete in das Hotel gegenüber dem Park ein. Ein Toter und 16 Verletzte waren die Bilanz. Am Vortag gab es ein weiteres Bombardement nur wenige hundert Meter entfernt: 3 Tote und 9 Verletzte, darunter ein Kind. Die zerschossenen Gebäude erinnern an die schreckliche Realität, die man hier eigentlich für ein paar Stunden vergessen möchte.
Trotz der oft schmerzhaften und manchmal schrecklichen Situation geht das Leben in der Flüchtlingsunterkunft weiter – mit seinen schwierigen Momenten, die man versucht, in «schönere» zu verwandeln, aber auch mit seinen glücklichen Momenten. Die meisten Menschen, mit denen ich arbeite, sind Geflüchtete und wissen nicht, was der morgige Tag bringen wird. Für sie ist es wichtig, zu leben und in Sicherheit zu sein. Für einige ist die Unterkunft nur eine Zwischenstation, um Luft zu holen, bevor sie weiterziehen, andere warten dort auf das Ende des Krieges und beteiligen sich an den verschiedenen Gemeinschaftsaufgaben wie Wartung, Empfang, Kochen usw.
Ich selbst habe vor, meine Erfahrung bis Januar 2024 zu verlängern. Ich habe mich oft gefragt, was ich hier mache – ist es Voyeurismus oder etwas anderes? Ich denke, dass meine erste Annäherung an die Ukraine während meiner Erfahrung in Brüssel die Frage beantwortet, zumindest was den Beginn meiner Anwesenheit hier betrifft. Ansonsten haben die verschiedenen Begegnungen und Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, dazu geführt, dass ich trotz des Kontextes und der damit verbundenen Einschränkungen weiterhin motiviert bin, in Saporischschja zu sein.
Die Menschen hier begleiten
«Thank you for what you are doing for Ukraine!» – «Danke für alles, was du für die Ukraine tust» – das höre ich oft. Wenn ich auf der Strasse oder bei der Arbeit jemanden anspreche, fragen mich die Leute, warum ich hier bin (es ist mir selbst noch nicht ganz klar), und auch wenn sie nichts fragen, sehe ich an der Art, wie die Leute mich anschauen, dass sie sofort erkennen, dass ich nicht von hier bin, obwohl ich nicht in meinen geblümten Shorts gekommen bin. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin nicht gekommen, um einem Land oder einer Nation zu helfen oder mich hinter eine Flagge zu stellen, auch wenn ich Blau und Gelb mag: Auch wenn es sich letztendlich um eine konkrete Hilfe handelt, ziehe ich es vor, von gemeinsamen Erlebnissen, Momenten und Erfahrungen zu sprechen. In der Küche ist niemand Chefkoch und niemand Küchenjunge; es gibt eine Zutatenliste, die Anzahl der Mahlzeiten, die an diesen oder jenen Ort, zu dieser oder jener Uhrzeit geliefert werden müssen, und jeder packt überall mit an, wo es nötig ist. Borschtsch braucht es in rauen Mengen, und in der Ukraine weiss jede·r, wie man Borschtsch kocht, egal wie viel davon zubereitet werden muss. Das Ziel hier ist nicht, mich unentbehrlich zu machen, sondern zu begleiten. Die Sprache ist manchmal ein Hindernis, weil in der Küche nur zwei Mitarbeitende Englisch sprechen.
Ich lebe (bis auf wenige Ausnahmen) mit den Menschen zusammen, mit denen ich arbeite. Da ich nicht die gleiche Sprache spreche, ist die Kommunikation begrenzt, aber das ändert nichts daran, dass sich eine gegenseitige Sympathie entwickelt hat. Die Bewohner·innen des Zentrums wissen, dass ich sie nicht verstehe, und bemühen sich also, sich mir verständlich zu machen, und das beruht auf Gegenseitigkeit. Gestern grillten wir mit einem Teil des Küchenteams am Dnepr, der durch die Zerstörung des Cherson-Staudamms um die Hälfte geschrumpft ist. Die Sonne schien, wir fischten und trotz der grossen Anzahl von Fischern waren wir es, die die schönsten und grössten Fische fingen. Wo Handlungen, Gedanken, Staaten und Institutionen aus dem Ruder laufen und Hunderttausende in den Tod schicken oder das Leben von Millionen zerstören, ist es wichtig, dass jede und jeder seinen Beitrag leistet, um in Richtung Frieden zu gehen. Nachdenken ist bereits ein Beitrag.
Emmanuel Dache, Saporischschja, 15. September 2023
- Schaffung von temporären und langfristigen Unterkünften, Einrichtung und Versorgung von Kantinen, Exfiltration von Zivilist·innen aus den umkämpften Gebieten und logistische und finanzielle Unterstützung für andere Organisationen