Der folgende Text besteht aus Auszügen eines langen Interviews mit Sergej, einem Mitglied von Operation Solidarity (1). Die Mitglieder von Operation Solidarity bezeichnen sich auf ihrer Website als «ein Netzwerk antiautoritärer Freiwilliger, das während des Krieges gegründet wurde, um gemeinsam mit den fortschrittlichen Kräften des Landes die imperialistischen Angriffe auf die Ukraine abzuwehren».
Ich habe das Gefühl, dass es für einige von uns im Westen einen deutlichen Unterschied zwischen humanitärer und militärischer Hilfe gibt. Für einige Linke in Europa scheint es ein Problem zu sein, den bewaffneten Widerstand zu unterstützen.
Sergej: Ja, das ist sehr gut, aber leider sehe ich keinen Ausweg ohne militärischen Widerstand. (...) Ich weiss, dass viele Linke in Europa nicht bereit sind, militärische Aktionen zu unterstützen. Ich würde es sehr begrüssen, wenn nach diesem Krieg eine starke antimilitaristische Bewegung entstünde, denn jetzt wissen wir, was ein Land tun kann, wenn es über Atomwaffen und jede Menge konventioneller Waffen verfügt. Eine globale antimilitaristische Bewegung ist sehr wichtig, aber das wird nur möglich sein, wenn Russland den Krieg verliert, denn wenn es ihn gewinnt, wird es ein neues Wettrüsten geben. Jeder wird noch mehr Waffen produzieren und Atomwaffen besitzen wollen. Wenn du ein antimilitaristischer Aktivist bist, musst du auch gegen die Kriege sein, die Russland führt.
Ich bin nicht sehr optimistisch, was die ukrainische Gesellschaft angeht und wie sie nach dem Krieg aussehen wird, hier gibt es viel Hass, der Nationalismus wird sich total normalisieren, leider. Aber im Moment ist alles besser als die russische Besatzung, weil Russland für mich fast ein faschistischer Staat ist und wenn man es mit der Ukraine vor dem Krieg vergleicht... Die Ukraine war ein viel demokratischerer Staat, natürlich mit all seinen Problemen, aber wirklich, wenn Menschen aus Weissrussland oder Russland in die Ukraine kamen, sagten sie: «Wow, ist das möglich? Könnt ihr das machen?».
EBF: Kennst du russische Aktivist·inn·en, die heute noch in Russland leben?
Ja, natürlich, ich habe Kontakt zu diesen Leuten und es ist sehr schwer für sie. Und es ist sehr schwer für sie zu glauben, was hier passiert, weil alle Nachrichtenkanäle kontrolliert werden, so dass sie Informationen nur über Telegram-Kanäle erhalten. Aber wenn sie die offiziellen ukrainischen Nachrichten über Butscha und die aus dem Westen sehen, glauben sie an nichts mehr und fragen uns: «Könnt ihr uns sagen, ob es wahr ist, was hier passiert? Ich kann es nämlich nicht glauben. Ich bin total gegen Putin und unsere Regierung, aber ich kann nicht glauben, dass russische Soldaten das getan haben könnten.» Es ist sehr schwer für sie, diese Realität zu akzeptieren. Ich habe ihnen gesagt, dass ich dort (in Butscha) gewesen bin und es mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Es ist nicht nur eine Person, ich habe mit mindestens zwei Personen aus Russland gesprochen, die nicht daran glauben. Für mich ist es schwer, das zu akzeptieren, denn es handelt sich um kritische Menschen.
EBF: Und das ist ein weiterer Punkt: Glaubst du nicht, dass der Staat, der eure Gruppen, aber auch rechtsextreme Protestgruppen als potenzielle Bedrohung ansieht, die Situation ausnutzen könnte, um alle in die Wüste zu schicken?
Ich glaube nicht, ich glaube, der Staat kümmert sich nicht darum, wer für welche Ideologie steht, er hat andere Dinge zu tun. Manchmal könnte das Kommando einer Einheit sagen: «Ach bitte, wir brauchen hier keine Politik», aber in Wirklichkeit ist es ihnen in grösserem Massstab egal, wer für welche Ideologie steht, die meisten verstehen nicht einmal die Unterschiede. Vielleicht wissen es die Geheimdienste, aber darin sind sie auch nicht so gut. Sie haben natürlich Spezialisten, aber das ist für sie nicht wichtig. Ich glaube nicht, dass sie diesem oder jenem Militäroffizier sagen könnten, dass er diese oder jene Einheit zum Beispiel nach Mariupol schicken soll, nein.
Und abgesehen davon ist die extreme Rechte ein viel grösseres Problem für die ukrainische Regierung als die extreme Linke. Aber ich habe noch kein Beispiel dafür gehört, dass Menschen wegen ihrer Ideen absichtlich in den Tod geschickt werden.
Und ich würde sogar noch weiter gehen: Der Krieg im Jahr 2014 war viel stärker politisiert, weil die Freiwilligenbataillone eine grössere Rolle spielten, die Armee schwach war und die nationalistischen Freiwilligenbataillone wirklich Helden waren, weil sie von der Maidan-Revolution stammten. Sie haben angefangen zu kämpfen und sind als Helden zurückgekehrt. Dann führten sie politische Projekte an, unter anderem nationale Parteien. Das Bataillon Aydar zum Beispiel war 2014 sehr beliebt, aber jetzt gibt es dieses Bataillon nicht mehr. Der Rechte Sektor (Pravy Sektor) war 2014 an der Front und ist es auch heute noch, aber jetzt ist er nur noch einer von vielen. Niemand spricht jetzt viel über den Rechten Sektor.
EBF: Wir hören viel über das Asow-Bataillon, wegen Mariupol. Was hältst du von ihnen?
Das ist eine komplexe Frage. Im Grunde ist Azow (2) eine Struktur oder besser gesagt: eine breite Bewegung. Das Asow-Bataillon wurde 2014 von Nazi-Organisationen und rechten Hooligans gegründet. In der Anfangsphase bestand der harte Kern der Organisation eindeutig aus Nationalsozialisten. Sie begannen, in Europa bekannt zu werden, man begann über sie zu reden und für sie zu werben. Sie spalteten sich jedoch in verschiedene Flügel auf. Der ursprüngliche rechtsextreme Kern des Asow-Bataillons gründete eine politische Partei namens National Corps und es gab einen paramilitärischen Flügel, die National Vigilant, die später in Centuria umbenannt wurde. Das Asow-Regiment wurde später in die Nationalgarde integriert.
Im Jahr 2016 wurden die meisten Freiwilligenbataillone in die ukrainische Armee integriert, sodass sie ihre Unabhängigkeit verloren und von der Frontlinie verlegt wurden. Soweit ich weiss, gab es vor dem Beginn der russischen Invasion nur noch zwei Freiwilligenbataillone: Asow und Rechter Sektor. Aber auch sie waren mehr oder weniger von der Front verlegt worden, so dass sie sich manchmal militärischen Operationen anschlossen, ansonsten aber in ihren Stützpunkten blieben. Aufgrund ihrer Popularität und ihrer militärischen Fähigkeiten schlossen sich ihnen viele Menschen an. Der Anteil der rechtsextremen Mitglieder des Regiments nimmt daher ab. Die Asow-Bewegung hat auch eine weitere kleine rechtsextreme Organisation, die autonom ist, aber mit dem National Corps koordiniert wird. Diese kleine Organisation hat auch eine eigene Abteilung zur territorialen Verteidigung gegründet, ähnlich wie die Anarchisten. Die Verbindungen zwischen Corps National und dem Asow-Regiment sind in den letzten Jahren schwächer geworden. Es gibt keine politischen Erklärungen seitens des Regiments, sondern nur seitens der Partei. Natürlich behalten sie diesen politischen Hintergrund, aber es ist nicht die Grössenordnung, von der die russische Propaganda spricht. Ich würde sagen, dass das Asow-Regiment in Mariupol weniger radikal ist als das Territorialverteidigungsbataillon, das von rechtsextremen Aktivisten des National Corps und kleinen Gruppen von Mitgliedern der Asow-Bewegung in Kyiw und anderen Städten gegründet wurde. Aber natürlich sehen sie, dass es Angriffe auf ihre Rhetorik gibt. Angesichts der Tatsache, dass Putin sie als Nazis bezeichnet hat, sagen sie «Wir sind keine Nazis, sondern Patrioten». Ich denke, im Asow-Regiment in Mariupol ist das näher an der Realität, weil die Zahl der Nazis/Rechtsextremen darin kleiner ist. Ich denke, einer der Gründe, warum das Asow-Regiment bis zum bitteren Ende kämpft, ist, dass seine Kämpfer wissen, dass sie von der russischen Armee liquidiert werden, wenn sie gefangen genommen werden, weil sie für die Russen den Teufel darstellen. Sie machen keine Gefangenen. (3)
Vor dem Krieg war das mein Hauptthema, über die extreme Rechte zu sprechen. Menschenrechtsverletzungen durch Rechtsextreme sind ein echtes Problem! Aber gleichzeitig ist es mit dem Ausmass des Krieges nicht zu vergleichen. Wir hatten im letzten Jahr 180 Gewalttaten und Zusammenstösse durch Rechtsextreme, wobei diese Zahl nicht nur Angriffe auf Personen, sondern auch auf Eigentum, Veranstaltungen usw. umfasst. Dabei gab es keine Toten. Die Skala der Schwere ist unvergleichbar. (…)
Ich glaube nicht, dass es eine gute Strategie ist, die Existenz der extremen Rechten hier zu leugnen, aber man muss die wahren Massstäbe aufzeigen. Und die wahren Massstäbe sind nicht mit denen der Russen vergleichbar.
Das Interview realisierten Marie (EBF) und Nolig (franz. Online-Zeitung «lundi matin») am 8. April 2022 in Kiew
Die Asow-Bewegung ist eine Galaxie von Organisationen, die mit der Geschichte des Asow-Bataillons verbunden sind. Dazu gehören unter anderem das National Corps (der politische Arm der Bewegung), die Nationale Miliz (paramilitärische Organisation, die sich vom Asow-Bataillon unterscheidet), Asow-Zivilkorps (nichtmilitärische aktivistische Organisation von Veteranen des Bataillons), Centuria (paramilitärische Organisation).
Ab 17. Mai haben sich mehrere hundert Kämpfer des Asow-Regiments, die im Asow-Stahlwerk von Mariupol verschanzt waren, der russischen Armee ergeben. Ihr weiteres Schicksal ist ungewiss.