KRIEG IN DER UKRAINE Was für ein Sieg?

von Cécile Druey, 14.09.2022, Veröffentlicht in Archipel 317

Ist der alles verschlingende Ruf nach (militärischem) Triumph das Einzige, was in diesem zerstörerischen Krieg in und um die Ukraine bleibt? Der folgende Artikel umfasst drei Narrative zum Thema «Sieg in der Ukraine», die unterschiedlicher nicht sein könnten: dasjenige des russischen Kremls, der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und der ukrainischen Regierung (1).

«Hurra, wir werden siegen!» – unter diesem Slogan mobilisieren gegenwärtig alle Seiten, die in der Ukraine gegeneinander Krieg führen. Aus Sicht des Kremls in Moskau gilt es, in der Ukraine den westlichen «Nazismus» zu besiegen. Für viele Bewohner·innen der besetzten Gebiete um das ostukrainische Luhansk und Donezk heisst «Sieg» eine durch Russland unterstützte Zementierung der eigenen Staatlichkeit und Sicherheit von der «anderen Seite», als die Kyiv hier wahrgenommen wird. Und für Ukrainer·innen bedeutet er die bedingungslose Wiederherstellung der territorialen Integrität ihres Landes in den Grenzen von vor 2014. Dass die drei oben erwähnten Interpretationen von «Sieg» kaum miteinander zu vereinbaren sind, liegt auf der Hand. Was aber steht hinter der Idee, die dreimal gleich, aber aus so unterschiedlichen Positionen herausposaunt wird? Was sind die Probleme, die daraus entstehen? Und gibt es in Russland, im Donbass und in der Ukraine Alternativen zu einem kompletten, rein militärischen Sieg? Die folgenden Schnappschüsse aus drei unterschiedlichen Perspektiven sollen ein Denkanstoss für die Suche nach Antworten auf diese Fragen sein.

Kampf gegen den Westen

In seinen Reden von Ende Februar ruft der russische Präsident Vladimir Putin zur «Rettung» der Bevölkerung des Donbass und zur «Demilitarisierung» und «De-Nazifizierung» der Ukraine auf. Die Putinschen Reden sind unterdessen vielfach geteilt und analysiert, und seine Idee des totalen Siegs und die damit verbundenen Befehle zur Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk und zur militärischen «Spezialoperation» in der Ukraine sind bestens bekannt, denn sie haben zu einem brutalen Angriffskrieg auf die ganze Ukraine geführt, der die ganze Welt in Atem hält. Frappant sind dabei unter anderem die historischen Parallelen, derer sich Putin bei seiner Argumentation bedient: Wie schon 1941 sei Russland auch heute gezwungen, «heldenmässig» seine Werte und die territoriale Eigenständigkeit gegen einen äusseren Feind zu verteidigen, der andernfalls alles zu verschlingen drohe. Die Propagandamaschine des Kremls hat die Vergangenheit schon seit geraumer Zeit immer mehr gezielt für ihre politischen Ziele instrumentalisiert: Seit Putins Amtsantritt Ende 1999 fand denn eine graduelle Hegemonisierung des zum «Siegeskult» heraufbeschworenen Triumphdiskurses der sowjetischen Armee über Nazideutschland statt (1945), was die zentrale Rolle des russischen Staates als Helfer und Retter herausstreichen und kritische Stimmen aus der Vergangenheit, etwa über das Leiden der sowjetischen Bevölkerung unter dem eigenen Regime, ausschalten soll. Bei Putins Argumentation und seinem Vergleich mit 1945 fällt auf, dass es ihm beim aktuellen Krieg gar nicht in erster Linie um die Ukraine geht (diese wird beispielsweise in der Rede zur Eröffnung der «Spezialoperation» am 24. Februar erst gegen Ende erwähnt). Vielmehr wird diese von Moskau als Puffer zwischen den Einflusszonen der Grossmächte instrumentalisiert, wobei es für die russische Führung in erster Linie gilt, der «drohenden Gefahr» des stets weiter nach Osten vorrückenden globalen Westens zu trotzen, verkörpert durch die NATO-Mächte und vor allem die Vereinigten Staaten.

Bei diesem Ruf nach dem «totalen Sieg» gegen den Westen, nach der Hochhaltung slawischer Werte und dem Wunsch nach Anerkennung als Grossmacht erstaunt, auf welch fruchtbaren Boden er in den Reihen der eigenen Bevölkerung fällt. (…) Längerfristig birgt die aggressive Siegespropaganda der Regierung aber erhebliches Gefahrenpotenzial für die Stabilität im Vielvölkerstaat Russland, nicht nur weil die Wirtschaft durch Boykotte geschwächt und viele Russ·inn·en durch den staatlichen Repressionsapparat in die Emigration getrieben werden. Sondern auch weil bei einem Andauern des Krieges in der Ukraine die Bekanntmachung von Opferzahlen unter den Soldaten und eine Generalmobilmachung der russischen Armee zu erheblichen Rissen in der Bevölkerung, zur Mobilisierung von bis jetzt uninteressierten Bürger*innen und zur Bildung eines politischen Untergrunds führen könnte. (…)

An der innerukrainischen Front

In den schon seit 2014 nicht von Kyiv kontrollierten Regionen im ostukrainischen Donbass, den sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk, wird inhaltlich der gleiche Siegesdiskurs vermittelt wie in Moskau, grösstenteils dankbar und unkritisch aufgesogen von der neuen Elite und von einer Bevölkerung, die in den vergangenen acht Jahren zunehmend zum Spielball äusserer Mächte geworden ist. Was bedeutet es, wenn die Lehrerin einer Donezker Sekundarschule im Klassenchat ihren Schützlingen zum 9. Mai gratuliert mit der Nachricht «Wir haben 1945 gesiegt, und wir werden auch heute siegen! Hurra!»…? Ist es echter Militarismus und gezielte Indoktrinierung von Kindern, oder ist es einfach nur Naivität, oder Ausdruck der eigenen Ohnmacht? Vor gut acht Jahren noch war Donezk eine blühende Millionenstadt mit Wirtschaftsbeziehungen und Verwandtschaftsnetzwerken in der ganzen Ukraine. Heute liegt es auf der anderen Seite einer neuen innerukrainischen Grenze, ein Grossteil der Bevölkerung ist ausgewandert, und der zurückgebliebene harte Kern lebt schon seit acht Jahren unter Beschuss und im Krieg gegen die einstige eigene Heimat. Gleichzeitig wurde aber auch tatkräftig am eigenen Staat gebaut: Mit der Unterstützung Russlands schuf man Institutionen, ein eigenes Erziehungswesen, Telefon- und Fernsehnetze und eine Armee – und die wirtschaftlichen Transaktionen wurden auf den russischen Rubel umgestellt.

Dieser Status zwischen den Fronten, gekoppelt mit den schmerzhaften Erfahrungen des Krieges von 2014, hat zu vielen Problemen und zu einer zunehmenden Abkoppelung der Regionen vom Rest der Ukraine und einer Hinwendung zu Russland geführt. Das Leben wurde für die Bewohner·innen komplizierter. Man musste lange Wartezeiten und Umwege in Kauf nehmen, wenn man auf die andere Seite der neuen inneren Grenze gelangen wollte. (…) Mit Russlands unilateraler Anerkennung der beiden «Volksrepubliken» als unabhängige Staaten, und vielmehr noch mit dem Beginn des Militärschlags gegen die Ukraine Ende Februar 2022 ist eine verhandelte Lösung für den politischen Status von Donezk und Luhansk in weite Ferne gerückt: Auch in den sogenannten Volksrepubliken dominieren im allgemeinen Schlachtgetümmel nun die Hardliner, die nach einer rein militärischen Lösung rufen. «Hurra, wir werden siegen!». Wenn dieser «Sieg» für Moskau jedoch den Triumph über «Nazideutschland» und über den globalen Westen bedeutete, so geht es in Donezk und Luhansk in erster Linie um die Zementierung der eigenen Staatlichkeit, und um eine definitive Ablösung von Kyiv. Dass dies mit militärischer Gewalt, der gegenseitigen Zerstörung von Infrastruktur und unter zahlreichen menschlichen Opfern auf beiden Seiten geschieht ist umso tragischer, als sich an dieser innerukrainischen Front nicht selten Verwandte, ehemalige Freundinnen und Freunde oder Klassenkamerad·inn·en gegenüber stehen, mit denen man irgendwann, falls man überlebt, das friedliche Zusammenleben wieder vollkommen neu erlernen muss.

Ein neuer Autoritarismus?

Der in den Vereinigten Staaten lehrende ukrainische Politologe Serhi Kudelia hat in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 11. Mai 2022 kürzlich deutlich vor einem neuen Abdriften der Ukraine in Richtung Autoritarismus gewarnt. Schuld daran seien nicht nur der Zentralisierungswille und die erlahmende Reformfreudigkeit von Präsident Selenski, sondern auch der dominante «Hurra»-Diskurs in der Bevölkerung, der einen kompletten (militärischen) Sieg der Ukraine gegen Russland und seine Stellvertreter im Donbass fordere, ohne Rücksicht auf zivile Opfer und den Schäden an staatlicher Infrastruktur, die daraus entstehen.

Dieser Ruf nach dem «kompletten Sieg» ist schon vor dem russischen Einmarsch durch eine kleine, aber einflussreiche Minderheit unter den ukrainischen Eliten laut geworden. Seit vergangenem Februar wurde er aber zum absoluten, alles beherrschenden Masterdiskurs, der von niemandem und nirgends Widerrede duldet – weder im eigenen Land noch von der internationalen Gemeinschaft und von Verbündeten in westlichen Staaten. Diese Hegemonisierung des Siegesdiskurses in der Ukraine führte dazu, dass erfahrene Friedensstifter·innen, die sich einst für inklusive Verhandlungslösungen eingesetzt hatten, plötzlich zu radikalen Verfechter·inne·n von Militärschlägen und unilateralen Entscheidungsstrategien wurden. Auch innenpolitisch seit dem Einmarsch der russischen Truppen kaum noch etwas anderes als der Kurs auf einen «kompletten Sieg» durchsetzbar; paradoxerweise, denn laut Kudelia bringen sich die Ukrainer·innen so um das eigene Mitspracherecht und um die in den vergangenen Jahren zäh erkämpften demokratischen Errungenschaften. (…) Diese Entwicklung in Richtung Autoritarismus und unilaterale Entscheidungsformen ist gefährlich, weil sie die Zementierung der geopolitischen Gräben weiter vorantreibt und dadurch die Möglichkeit eines Waffenstillstands und einer schnellen Lösung des Konflikts mit Russland in weite Ferne rücken lässt. (…)

Raum für Zwischentöne!

Im Strudel der unilateralen Siegesdiskurse und der allseitigen Radikalisierung ist es schwierig, sich mit alternativen Ideen und Vorschlägen für Kompromisse und Verhandlungslösungen gegen den Strom zu stellen. Dies ist eine in der Konfliktforschung leider nur allzu oft beobachtete Entwicklung, da gerade die unmittelbare Erfahrung des Konflikts und die daraus entstandene Bedrohung für Leib und Leben – und für das Überleben des eigenen Staates, wie das im Fall der Ukraine stark zum Ausdruck kommt – wenig Raum lässt für differenzierte Zwischentöne. Im Gegenteil, es wird von allen und jedem eine klare Positionierung bis hin zur Verleugnung der eigenen Identität verlangt. Ein Beispiel hierbei sind die jüngsten Entwicklungen in der Wissenschaft: Forschende, die den Krieg zwar an den Pranger stellen aber sich weigern, politisch Stellung zu beziehen oder den Kontakt zu Kolleg·inn·en in Russland abzubrechen, werden auch in Westeuropa klar verurteilt, alte Freundschaften werden gekündigt, die akademische Professionalität aberkannt. Dennoch ist es aber wichtig, dass gerade in der Wissenschaft Stimmen, die sich zwischen den politischen Polen bewegen, Raum finden. Einerseits weil unilaterale Siegesdiskurse und propagandistische «Wahrheiten» immer nur höchstens die Hälfte des real Geschehenen zu erzählen vermögen: Wo hat etwa im Ruf «Nieder mit allen Russen!» die Geschichte der Petersburger Soldatenmutter Platz, die dank ihres mutigen Einsatzes nicht nur ihren eigenen Sohn, sondern mit ihm auch noch vierzig andere, illegal an die Front geschickte russische Rekruten aus der Ukraine zurückholte? Oder was macht die Aussage «im Donbass sitzen lauter Kriminelle» mit der Sozialarbeiterin aus Donezk, die Tag für Tag auf eigene Kosten aus Mariupol evakuierte Kinder nach Polen fährt, damit sie von dort aus mit ihren Verwandten in der Ukraine wieder zusammengeführt werden können? Oder was macht die in Russland verbreitete Haltung «jegliche Meldung von ziviler Zerstörung in der Ukraine ist fake» mit dem Bild der Pianistin im Kiever Vorort Irpin, die auf ihrem verstaubten, aber wie durch ein Wunder von den Bomben verschonten Flügel gegen die sie umgebende Zerstörung anspielt? Es sind aber genau solche Zwischentöne und solche Geschichten, die die andere Seite nicht pauschal verurteilen und als monolithisches Ganzes darstellen, die helfen, Gedanken, Kontakte und Netzwerke aktiver oder potenzieller Zusammenarbeit zu erhalten, die irgendwann in der Zukunft wichtig sein werden: Für den Wiederaufbau und für eine Normalisierung der Beziehungen unter Menschen, die zusammen in dieser zerstörten Umgebung leben müssen.

Cécile Druey*

*Historikerin und Forscherin an der Universität Bern zu den Konflikten im post-sowjetischen Raum und Praktikerin in der Friedensförderung, u.a. bei der schweizerischen Friedensstiftung swisspeace (2011 bis 2017) und als Mitstreiterin der «Women’s Initiatives for Peace in Donbas/s (WIPD)» (seit 2014).

  1. Der ungekürzte Artikel erschien in «Neue Wege», 6/22 unter dem Titel «Hurra, wir werden siegen – aber zu welchem Preis?», Zürich, 30. Mai 2022