UKRAINE: 51 Tage Krieg

von Jürgen Kräftner, 18.04.2022, Veröffentlicht in Archipel 314

Wie bereits im Archipel erwähnt, erhalten wir regelmässig Nachrichten aus dem Dorf Nischnje Selischtsche im Westen der Ukraine, wo unser Korrespondent lebt und mit vielen anderen seit Beginn des Krieges für die Rettung und den Empfang von Menschen aus den Kriegsgebieten im Einsatz ist.

Die Gegend ist überfüllt mit Binnenflüchtlingen. Während manche in die zentralen Regionen und nach Kiew zurückkehren, kommen andere aus Charkiw und dem Osten. Nur sehr wenige gehen ins Ausland. Ein Freund, der für eine westeuropäische Hilfsorganisation arbeitet, hat kürzlich in den Nachbarregionen recherchiert und mit vielen Flüchtlingen gesprochen. Wenig überraschend, aber dennoch beunruhigend ist, dass Transkarpatien und die Oblast Lwiw die beiden Regionen sind, in denen sich 80 Prozent der IDPs (internal displaced persons) zumindest vorübergehend niederlassen möchten.

Lokales

Bei uns im Dorf leben jetzt offiziell fast 500 IDPs, nach unterschiedlichen Schätzungen gibt es zusätzlich mehrere Hundert, die nicht registriert sind. In drei Schulen und einem Dutzend Kindergärten des Gemeindeverbands, zu dem Nischnje Selischtsche gehört, leben rund 650 IDPs. Die Verwaltung hat es übernommen, sie zu ernähren, aber wie immer funktionieren die staatlichen Strukturen schlechter als private Initiativen oder einfach NGOs. Der Staat kürzt das Bildungsbudget einschliesslich der Gehälter, um den Unterhalt der Flüchtlinge zu bezahlen. Natürlich spiegeln die Flüchtlinge in gewisser Weise die ukrainische Gesellschaft mit reichen und armen Menschen wider, abgesehen von den ganz Reichen, die sich irgendwo im Ausland oder in Hotels befinden, und den Ärmsten, die nicht unbedingt die Möglichkeit haben, rechtzeitig zu fliehen. Unsere Freundin Natascha vom CAMZ* in Uschgorod sagt, dass man davon ausgehen kann, dass 20 Prozent dieser Neuankömmlinge auch nach Ende des Konflikts in der Region bleiben werden. Nach unseren sehr subjektiven Eindrücken scheint dies auch im aktuellen Fall realistisch zu sein. Beispielsweise gibt es Menschen, die 2014 erstmals aus Luhansk oder Donezk fliehen mussten und seit acht Jahren in den Nachbarregionen des besetzten Donbass leben. Sie zB. können sich nicht vorstellen, zurückzukehren - was wird aus ihnen werden?

In unseren Dörfern gibt es noch ein weiteres Phänomen. Schon bald nach Beginn des Krieges sind ganze Familien in die Nachbarländer emigriert. Oft war es der Ehemann, der sich bereits in Tschechien befand, z. B. als Saisonarbeiter, und der die erleichterte Regelung nutzte, um seine Frau und die Kinder nachkommen zu lassen. Wir haben keine Statistik über die Anzahl dieser Ausreisen, vielleicht ein Dutzend oder sogar zwanzig Familien. Es ist noch zu früh, um zu verstehen, auf welche Weise sich diese Lücke mit den Neuankömmlingen füllen wird. Die Immobilien- und Mietpreise sind explodiert. In Chust kostet die Miete für eine schäbige Zweizimmer-Wohnung über 600€. Ein praktisch unbewohnbares Haus im Zentrum unseres Dorfes kostet 25.000$. Grundsätzlich sehen wir die Ankunft der Menschen aus dem Osten als eine Chance für Transkarpatien. Es gibt zwei historische Präzedenzfälle aus der jüngeren Vergangenheit: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen viele jüdische Familien aus dem Zarenreich, die vor Pogromen flohen. Diese Juden waren dann recht gut in die Dorfgemeinschaften integriert. In den 1920er Jahren kamen viele Ukrainer_innen, die aus der UdSSR und dem repressiven Polen flohen und die Bevölkerung während der tschechischen Herrschaft aus dem «Mittelalter» herausholten, sie brachten eine Art Zeitalter der Aufklärung in unsere Region. Auch die Neuankömmlinge aus dem Donbass wurden nach der Besetzung im Jahr 2014 in den meisten Fällen gut akzeptiert und konnten sich gut integrieren.

Saporischschja und Charkiw

Unser Freund G. kehrte gestern von einer Reise nach Saporischschja zurück. Er war positiv beeindruckt von den kollektiven Anstrengungen dort bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Jeden Tag kommen 5000 bis 6000 Menschen an. Alle werden nach Kräften gut empfangen und versorgt, erhalten Essen und Unterkunft, werden angesprochen und unterstützt. Gleichzeitig erzählt er, dass diese Menschen, die aus den seit Wochen bombardierten Städten kommen, völlig traumatisiert und in sich gekehrt sind. Er erzählte auch von seinen Freunden, die nach Mariupol pendeln, um Hilfe zu bringen und Menschen zu evakuieren - manchmal mit ihren Privatautos. Das ist sehr riskant, es gibt mehr als ein Dutzend russische Kontrollposten auf der Strasse, und der Tod ist allgegenwärtig.

In Saporischschja bereiten die Verwaltung und private Initiativen die Stadt auf eine Belagerung und die Ankunft von noch viel mehr Flüchtlingen vor. Dafür bitten sie uns um noch mehr Fahrzeuge, insbesondere Kleintransporter. Auch unsere Freunde in Charkiw leisten grossartige Arbeit. Sie verteilen fast 7000 warme Mahlzeiten pro Tag an Bedürftige, plus weitere Lebensmittel. Es wäre schön, wenn wir sie finanziell unterstützen könnten. Die letzten Tage waren für sie nicht einfach. Einer ihrer Freiwilligen wurde durch Artilleriebeschuss getötet, eine enge Freundin des Gründers dieser Initiative ist ebenfalls so ums Leben gekommen. Unsere Filmfreunde werden in Kürze dorthin reisen, um eine Videoreportage zu drehen.

Prognosen

Das Landwirtschaftsministerium der Ukraine hat eine Prognose veröffentlicht, der zufolge 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in diesem Jahr bebaut werden. Es gibt Initiativen, vor allem aus Kanada, die den Grossbauern in den Weizen- und Sonnenblumenebenen mit Saatgut helfen. Vieles wurde aber bereits vor dem Winter ausgesät. Unsere Prognosen: Ein baldiges Ende des Krieges scheint unwahrscheinlich. Eine ukrainische Kapitulation noch unwahrscheinlicher, selbst wenn Mariupol fallen sollte und das angekündigte Inferno des Generals Dwornikow eintritt. Jedenfalls gibt es hier in der Ukraine keine Spur von Defätismus, jeder und jede tut seine/ihre Arbeit. In den zerstörten und nun von den Russen verlassenen Gebieten werden bereits grosse Anstrengungen beim Wiederaufbau und bei der Minenräumung unternommen.

Jürgen Kräftner, 15. April 2022

CAMZ: Komitee für medizinische Hilfe in Transkarpatien. Das EBF arbeitet schon seit 15 Jahren, speziell in der Frage des Flüchtlingsempfangs mit dem Komitee zusammen.