UKRAINE / SOZIALES: Neoliberaler Sozialabbau

von Interivew mit Vladislav Starodubtsev, 11.02.2023, Veröffentlicht in Archipel 322

Wir veröffentlichen hier den 1. Teil* eines Interviews mit Vladislav Starodubtsev. Er ist Historiker mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa sowie Mitglied der linken ukrainischen Organisation Sotsialnyi Ruch (Soziale Bewegung). Im Zentrum des Gesprächs stand der Sozialabbau in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022.

Vladislav Starodubtsev: Zu Beginn des Krieges wurde die Ukraine von Politiker·innen regiert, die eine radikale, fundamentalistische Marktideologie vertreten, eine neoliberale Ideologie. Sie nutzten den Krieg, um ihre Pläne umzusetzen und ihre Visionen zu verbreiten. Diese Politik ist nicht das Resultat des Drucks der Oligarchen, sondern sie ist begründet im Glauben dieser Leute, dass die Mechanismen der Marktwirtschaft alle Probleme lösen können. Zu Beginn des Krieges haben sie, gestützt auf diese Logik, die Arbeitnehmerrechte radikal beschnitten, den Kündigungsschutz eingeschränkt und dem Staat seine Rolle als Moderator zwischen Arbeitnehmer·inne·n und Arbeitgeber·inne·n entzogen, mit dem Ziel, ein positives Investitionsklima zu fördern, insbesondere auch für ausländisches Kapital. Das ist natürlich absurd in einer Situation, in der jede Investition sehr schnell durch eine Rakete zerstört werden kann. Daher hat es auch nicht funktioniert, aber sie haben an ihrem Kurs festgehalten.

Archipel: Liegt das am Druck des grossen Kapitals?

VS: In den meisten Fällen liegt es nicht an den Oligarchen. Unsere Oligarchen versuchen seit einiger Zeit, sich das Image sozial orientierter, patriotischer und verantwortungsbewusster Geschäftsleute zu geben. Der Druck kommt von neueren Unternehmen, darunter auch grosse ukrainische Unternehmen, die nach der Privatisierung in den 1990er Jahren entstanden sind und diese neoliberale und radikale Lobbyarbeit vorantreiben.

A: Wird diese Lobbyarbeit die Ukraine zu einer Wirtschafts- und Sozialpolitik führen, die der von Pinochet in Chile in den 1970er Jahren ähnelt?

VS: Das Schlimmste ist derzeit nicht die Lobbyarbeit, sondern die Ideologie der regierenden Partei. Manchmal beginnen jedoch Einzelne daran zu zweifeln, wie zum Beispiel Hetmantsev, der Vorsitzende des Ausschusses für Finanzen und Steuern der Werchowna Rada, des Parlaments. Er sagte im Frühsommer, dass wir, wenn wir die Steuern für Reiche weiter senken, nicht mehr in der Lage sein werden, die Armee und den Staat zu finanzieren. Daraufhin wurde er Opfer einer Pressekampagne, in der er als radikaler Marxist dargestellt wurde. Diese ultraliberale Politik wird also zunächst vom Staat initiiert und dann sorgt der Druck der Wirtschaftseliten dafür, dass dieser nicht mehr von ihr abweicht.

A: Meiner Meinung nach ist die Ukraine keine Diktatur im politischen Sinne, noch wird sie nicht von einem monolithischen Kapital regiert. Die Gesetzgebung funktioniert häufig so: Die Regierung und das Parlament verabschieden übereilt Gesetze, dann widersetzt sich die Gesellschaft und die Regierung macht alles wieder rückgängig. Wie sieht es diesbezüglich mit der sozialen Frage aus? Sie betrifft viele Menschen, während ich den Widerstand vor allem in weniger zentralen Bereichen sehe. Ich denke da zum Beispiel an den Kampf von ein paar hundert ukrainischen Filmemacher·inne·n, die sich für den Schutz der Filmarchive einsetzen.

VS: Die Menschen, die sich gegen die Privatisierung der Filmarchive wehren, gehören in der Regel zur gebildeten Mittelschicht, die auch eine gewisse politische Erfahrung hat. Sie können Englisch, haben Zugang zu den Medien und wissen, wie sie die Öffentlichkeit mobilisieren können. Aber die meisten Menschen, die einfach nur arbeiten, bilden eine riesige unsichtbare Klasse, die nicht weiss, wie sie sich Gehör verschaffen kann. Das hat zur Folge, dass sie in der Politik fast überhaupt nicht vertreten sind. Die grossen Medien berichten nicht über sie, es gibt nichts Sensationelles. Und die Gewerkschaften wiederum haben entweder kein Interesse oder wissen nicht, wie man politische Kampagnen und Aktionen durchführt. Sie sind in der Regel sehr passiv und treffen Entscheidungen auf eine sehr altmodische Art und Weise, sie wissen nicht, wie man moderne Kommunikationstechnologien nutzt. Sehr viele Menschen verbringen den Grossteil ihrer Zeit an der Arbeit und haben danach weder die Kraft noch die Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Stattdessen wird während des Krieges im Fernsehen und in den grossen Zeitungen über gewissermassen vorselektionierte Menschen berichtet. Alle interessieren sich für den Krieg, und andere Themen fallen unter den Tisch, wenn sie nicht von Leuten kommen, die ihr eigenes Publikum haben. Also ja, die Intellektuellen, insbesondere die kreativen Intellektuellen, können ihre Forderungen notfalls durchsetzen, aber nicht die Arbeitnehmer·innen.

A: Eines der grössten Probleme ist wahrscheinlich die kolossale Trägheit der Gewerkschaften, die aus der Zeit der Sowjetunion stammen.

VS: In Europa haben sich die Gewerkschaften über ein Jahrhundert lang gebildet und wurden von den grossen Arbeiterparteien unterstützt. Die Sozialdemokrat·inn·en, Sozialist·inne·en und Radikalen vertraten ihre Interessen. Alles in Allem war das eine gigantische politische Schule, auch wenn mittlerweile die meisten Gewerkschaften bürokratisiert sind. Aber in der Ukraine gab und gibt es keine Schulung für gewerkschaftliche Aktivitäten, Proteste etc. Die Gewerkschaften wurden nach der Oktoberrevolution 1917 zerstört und erst 1991 wieder gegründet, allerdings in der Verwaltungsstruktur der sowjetischen Pseudo-Gewerkschaften.

A: Kannst du etwas mehr zu den Gesetzen sagen, die neu in Kraft sind – wie unsozial sind sie?

VS: Das ist eine endlose Liste! Aber das Wichtigste, was eingeführt wurde, ist die Praxis der «Null-Stunden-Verträge», bei denen es keine zeitliche Begrenzung der Arbeitszeit gibt: Die Arbeitnehmer·innen können jederzeit, überall und unter allen Bedingungen zur Arbeit herangezogen werden. Gewisse Bedingungen können in individuellen Verträgen zwischen den Arbeitgeber·innen und Arbeitnehmer·innen festgelegt werden. Tarifverträge sind freiwillig. Der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin kann fast alles in Form eines Einzelvertrags vorschreiben, der teilweise der Gerichtsbarkeit des Arbeitsverhältnisses entzogen ist. Es muss nur ein individueller Vertrag zwischen zwei Rechtspersonen abgeschlossen werden. In diesem Vertrag kann fast alles vorgeschrieben werden – Entlassungen sind legal, es sei denn, sie sind diskriminierend.

Diese «Null-Stunden-Verträge» ermöglichen es den Arbeitgeber·innen, die Arbeitnehmer·innen·fast jederzeit anzurufen, garantieren aber nicht, dass jemand eine Arbeit bekommt. Wenn es also nicht genug Arbeit gibt, können die Arbeitgebenden weniger als den Mindestlohn bezahlen. Früher mussten sie Dreiviertel des Lohnes bezahlen, auch wenn es keine Arbeit gab. Es gibt auch den Fall der Einberufenen, die vom Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin keinen Lohn mehr erhalten, sobald sie von der Armee einen Sold bekommen. Und viele Unternehmen versuchen, die Wehrdienstleistenden zu entlassen, aber es ist möglich, sich vor Gericht dagegen erfolgreich zu wehren.

Es gab eine einschneidende Reform der Sozialversicherung: Die Sozialversicherungsanstalt wurde mit dem Rentenfonds zusammengelegt. Dabei wurde ihre Finanzierung um fast die Hälfte gekürzt und die Möglichkeit, im Falle eines Arbeitsunfalls oder eines anderen Problems eine Entschädigung zu erhalten, ist seither stark eingeschränkt. Einige Entschädigungen wurden einfach abgeschafft und der Staat hat sich vollständig aus seiner Verantwortung gegenüber Arbeitnehmer·inne·n, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Schaden erlitten haben, zurückgezogen.

Früher war es möglich, eine Inspektion eines Unternehmens einzuberufen, um festzustellen, ob es alle arbeitsrechtlichen Normen einhält. Seit Kriegsbeginn gibt es ein Moratorium für diese Inspektionen. Darüber hinaus wurde die für die Inspektionen zuständige Abteilung drastisch reduziert, was darauf hindeutet, dass das Moratorium nach dem Krieg höchstwahrscheinlich verlängert wird.

A: Das klingt brutal und beängstigend. Betrachten wir die spezifische Situation in Transkarpatien, wo ich lebe. In dieser Region betrifft das Arbeitsrecht vielleicht, völlig frei geschätzt, 10 Prozent der Bevölkerung. Die Bevölkerung ist sehr mobil und es gibt viele Menschen, die ihr Geld im Ausland verdienen. Sobald es ihnen an einem Ort nicht gefällt, gehen sie woanders hin. Ich verstehe aber, dass es in anderen Regionen nicht so viele Wahlmöglichkeiten gibt. In der Westukraine werden sehr viele Menschen, jedenfalls nach dem Kriegsende, die schlechteren Bedingungen nicht akzeptieren und Arbeit im Ausland suchen.

VS: Ja, aber es gibt noch andere Faktoren. Wenn man zum Beispiel die Arbeitnehmerrechte schmälert, dann hat das bei der Präsenz von starken Gewerkschaften und bei Vollbeschäftigung kaum Konsequenzen. Wenn es aber nur schwache Gewerkschaften gibt und 13 Personen auf einen einzigen Arbeitsplatz kommen, führt das zu einem starken Machtgefälle, treibt Lohnkürzungen voran, verschlechtert die Arbeitsbedingungen und verringert die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer·innen. Und ja, in diesem Fall werden viele Menschen ins Ausland gehen.

Und auch, wie du richtig sagst, fallen die meisten Menschen überhaupt nicht unter das Arbeitsverhältnis oder befinden sich in einer Grauzone, weil die Unternehmen sie nicht offiziell beschäftigen. Unsere Regierung hat einen schrecklichen Plan, um diese Situation zu bewältigen: Sie hat eine Steuerreform vorgeschlagen, die Steuersenkungen für alle Unternehmen vorsieht, die im Schatten arbeiten. Anstatt seiner Rolle als Kontrolleur und Verteidiger der Bevölkerung gerecht zu werden, riskiert der Staat mit diesen Massnahmen, noch mehr Unternehmen zu motivieren, in die Schattenwirtschaft abzurutschen, da sie mehr Privilegien geniessen als Unternehmen, die transparent arbeiten.

Das Interview wurde von unserem Ukraine-Korrespondenten Jürgen Kräftner geführt.

Der 2. Teil wird im nächsten Archipel, im März veröffentlicht